22.05.2016 Was es bedeutet, ein Flüchtling zu sein
Ich bitte sehr darum, dass dieser Brief öffentlich geteilt wird.
„Liebe Mam Ina,
ich denke im Moment viel nach. Du hast mich gefragt, wie es ist, in Deutschland zu sein, hier zu leben als Flüchtling.
Es ist alles gut. Wir sind sehr dankbar.
Das würden die meisten sagen. Aber da ist noch mehr und es ist schwer, darüber zu sprechen.
Es geht dabei nicht um Sprache oder dass ich warten muss oder um unsere Angst um meine Familie.
Es geht darum, wer ich jetzt bin. Und wer ich war. Ich bin ein Flüchtling. Das ist neu für mich. Ich kann mich nur sehr schwer daran gewöhnen. Ich weiß, ich sollte dankbar sein. Und natürlich bin ich es auch.
Aber…
Ich stamme aus einer reichen Familie. Mein Vater hat sein Leben lang hart gearbeitet. Und er hat jedem seiner 12 Kinder eine Wohnung gekauft, bevor er gestorben ist. Wir hatten eine wunderbare Kindheit. Ich erinnere mich so gerne an Zuhause. Unser Haus auf dem Land hatte große Zimmer. Wir hatten alte Holzmöbel mit Intarsienarbeiten. Truhen, die mit Perlmutt eingelegt waren. Wir hatten alte Mosaikarbeiten auf den Fußböden unseres Hauses und wunderschöne Vorhänge aus dunklem Samt an den Fenstern. Die Kinderzimmer waren lichter gestaltet und nicht so antik. Wir hatten einen großen Garten mit vielen Rosen, mit Zitronen und Apfelsinenbäumen und mit Olivenbäumen.
Um diese Zeit hat der Pinienwald geduftet, dass ich mich immer daran berauschen konnte.
Jetzt lebe ich mit drei anderen in einem Zimmer mit 16 Quadratmetern. Es sind Fremde, sie sind nicht Teil meiner Familie. Es sind keine Freunde. Also, ich würde sie mir nicht als Freunde auswählen, wenn ich eine Wahl hätte. Aber die habe ich nicht. Wir kommen klar, weil wir müssen.
Das Zimmer hat zwei Stockbetten, vier schmale Spinde, einen Tisch, vier Stühle. Und einen Kühlschrank. Die Kleidung, die ich besitze, kann ich genau zweimal wechseln, dann muss das Gewaschene wieder trocken sein.
Ich schäme mich, wenn Du in dieses Zimmer hier kommst. Weil es Dir zeigt, was ich jetzt bin und weil es sich so anfühlt, als ob das alles nichts mit mir zu tun hat. Du setzt Dich auf mein Bett und ich denke daran, wie ungehörig das ist. Oder wie ungehörig das zuhause wäre, jemandem in das Schlafzimmer einzuladen. So was macht man nicht. Eigentlich. Aber hier habe ich keine Wahl.
Ich fühle mich oft, als ob ich in einem falschen Film bin. Ich spiele die Hauptrolle, aber es bin nicht ich. Als ob jemand sich mein Gesicht aufgesetzt hat und an meiner Stelle handelt. Und doch bin ich es.
Als ich Syrien verlassen habe, wollte ich erstens dem Krieg entkommen. Und zweitens wollte ich mir eine Zukunft aufbauen in Europa.
Aber ich habe nicht gewusst, was es heißt, die Identität eines Flüchtlings zu haben. Ein Besitzloser, ein Heimatloser zu sein. Abgeschnitten von allen Wurzeln. Und das aus eigener Entscheidung.
Ich denke, es ist die Hilfebedürftigkeit, die mir nun anhaftet, die mir tief in meinen Stolz schneidet.
Mein Vater hatte eine Firma mit 200 Angestellten! Alle meine Geschwister haben studiert! Und die Deutschen reden über uns als „Wüstenbimbos“. Darüber, dass die Bildung der Syrer nicht vergleichbar ist mit der der Deutschen. Vielleicht ist das so.
Aber es tut mir weh, wie über uns gesprochen wird.
Ja wir sind Bedürftige. Hilfsbedürftige. Du kannst Dir nicht vorstellen, wie schwer es mir fällt, das einzugestehen. Aber das ist nicht alles, was wir sind.
Ich möchte Dich so gerne standesgemäß empfangen. Und Du sitzt auf meinem Bett.
Ich möchte Dich so gerne zu einem 5-Gänge-Menü einladen. Und Du bezahlst, wenn wir im Café sitzen.
Ich möchte Dir zeigen, wie kultiviert wir sind, welche wunderbaren Kunstwerke wir geschaffen haben, die Schönheit der arabischen Schrift. Die Erhabenheit der Landschaft, der Moscheen, der Plätze.
Aber ich habe nur Bilder davon.
Ich möchte Dir unsere Dichtkunst, unsere Bibliotheken, unseren geistigen Reichtum zeigen. Alles, was ich tun kann, ist Schach mit Dir zu spielen.
Einige der Helfer gehen mit uns um, als ob wir ein bisschen minderbemittelt sind. Sie pflegen uns, ja. Aber ich kann die Ungeduld spüren, wenn ich zum dritten Mal frage, wie das mit der Meldebescheinigung geht. Ich spreche schon deutsch, aber zu verstehen, wie Eure Bürokratie funktioniert, ist eine Herausforderung an sich. Das sind ganz andere Konzepte.
Am schlimmsten ist wahrscheinlich das Mitleid. Als ob man den ganzen Tag über den Kopf gestreichelt wird.
Ich möchte manchmal schreien: lasst uns wieder Erwachsene sein! Lasst uns mitbestimmen in Euren Integrationstreffen! Macht uns keine Angebote, ohne uns aktiv an der Vorbereitung zu beteiligen!
Wir sind mündig. Wir haben so viel zu geben. Bitte lasst uns nicht dauerhaft zu Adressaten von Hilfeleistungen werden, sondern behandelt uns als Gleichgestellte in einer besonderen Lebenssituation.
Ich hoffe, Mam, Du verstehst, was ich sagen will. Ich bin dankbar, ungeheuer dankbar. Aber ich will eine Möglichkeit, das auch zu zeigen, indem ich etwas zurück gebe.
Danke fürs Zuhören, Mam.
Viele Grüße aus der Gemeinschaftsunterkunft
A.“
die Antwort von Ina an A.
22.05.2016
Eine Antwort auf den Brief von A.
Ich hätte sehr gerne eine Übersetzung ins Englische und würde mich freuen, wenn dies öffentlich geteilt würde.
„Lieber A.,
vielen Dank für Deine Offenheit. Ich frage mich gerade, was sie Dich wohl gekostet haben mag. Mich soweit in Dich hineinschauen zu lassen, zeigt mir, wie sehr Du mir vertraust. Darauf bin ich stolz. Dass Du mich ausgewählt hast, um mir zu zeigen, was in Dir vorgeht.
Ich möchte Dir sagen, dass ich das, was Du als Mensch in den letzten Monaten geleistet und ertragen hast, unendlich bewundere. Ich sehe Dich nicht primär als Geflüchteten. Keinen von Euch.
Es ist mir persönlich verdammt egal, woher Ihr kommt und was Eure Gründe dafür waren, zu flüchten. Es schmerzt mich tief, zu sehen, in welchen Lebensumständen ihr derzeit seid. Untätigkeit, häufig Trostlosigkeit. Und diese nagende Angst. Auch die Wut zu sehen, darüber, was Deinem Land und Deinem Volk angetan wird.
Ich teile Deinen Schmerz.
Wenn ich Dich besuche, dann sehe ich nicht Dein Bett. Ich sehe nicht die Kargheit der alten Möbel. Ich besuche Dich, weil ich Dir als Mensch begegnen möchte. Wenn ich Dir nochmal die Sache mit dem Amt erklären kann, gerne. Aber das ist nebensächlich.
Ich komme Dich besuchen, weil ich neugierig bin auf Dich. Ich finde Dich anregend. Ich möchte wissen, wie es Dir geht, weil es mich interessiert. Ich sehe in Dir diese unbändige Lebenskraft, Deinen Humor, Deinen Stolz. Und ich schätze das an Dir.
Ich mag lange nicht alle Flüchtlinge. Schon gar nicht aus Prinzip.
Ich mag Dich dafür, was Du warst, was Du bist und was Du werden wirst. Wie man einen Freund mag.
Und ich werde Dir ganz bestimmt nicht Deine Flügel nehmen, indem ich Dir länger als notwendig helfe. Dazu mag ich einen freien Vogel viel zu sehr. Ich bin eher diejenige, die Dich aus dem Nest werfen wird. Und dann werden wir beide zusammen fliegen. So tue ich das mit meinen Freunden.
Dass Du ein Geflüchteter bist, tut nichts zur Sache. Die Schreie, die Du beim Fliegen vor Freude von Dir gibst, werden eben ein bisschen anders klingen. Das ist alles.
Herzliche Grüße
Mam Ina