AlexRE hat geschrieben:Hier ein sehr interessanter Artikel eines ägyptischen Schriftstellers zu der Abstimmung in der Schweiz:
zeit.de
Die in dem Artikel beschriebene Problematik kommt mir irgendwie bekannt vor:Wenn das die arabischen Regierungen machen, wird daraus nichts. Sie sind viel zu bürokratisch und korrupt. Es gibt ja schon viele Moscheen und muslimische Zentren in Europa, aber die sind dominiert von wahhabitischen Strömungen und finanziert von saudischem Ölgeld. Wie heißt es so schön - wes Geld ich nehm, des Lied ich sing.
(...)
Bei uns gab es das erste Kino, die erste Frau im Parlament, wir hatten als erstes muslimisches Land das Frauenwahlrecht. Die große Wende kam Anfang der achtziger Jahre: Da hieß es plötzlich aus der saudischen Ecke, eine Frau als Schauspielerin oder Sängerin, das sei gegen die Religion. Heute gibt es in Ägypten 17 saudische TV-Kanäle, die jeden Tag diesen engstirnigen Islam propagieren. Wenn Sie vor 30 Jahren in Ägypten gesagt hätten, Frauen sollten ihr Gesicht verdecken, hätte man Sie ausgelacht.
Das Problem bei der Wurzel zu packen und die Wahabiten politisch und ökonomisch zu zernieren, würde den aktuellen wirtschaftlichen Interessen von Amerikanern und Euopäern zuwiderlaufen. Also nimmt man lieber Kriege zur Symptombekämpfung in Kauf.
Mir kommt es bei dieser Diskussion weniger auf den konkreten Fall "Minarett-Abstimmung in der Schweiz" an, als vielmehr aufzuzeigen, dass Volksabstimmungen unter den gegebenen Voraussetzungen oftmals nicht funktionieren.
Du kannst durch Gesetz weder den Politikern den Populismus verbieten, noch der Presse eine saubere Berichterstattung verordnen.
Noch sind die Menschen nicht fähig, über emotional aufgeladene Themen rational und mit der nötigen Weitsicht abzustimmen, wie das Beispiel Schweiz belegt. Und nicht bei allen Entscheidungen wird die Verfassung tangiert, so dass die Verfassung auch nicht als Korrektiv für eine "Summierung von Dummheit" fungieren kann. Auch brauchen wir spätestens seit der Schweiz nicht mehr über eine "Intelligenz der Masse" oder ähnlichen Überlegungen reden.
Sehe Dir doch mal die Berichterstattung aller Medien zu den aktuellen Arbeitslosen-Zahlen an. Unisono wird berichtet, wir hätten wieder weniger Arbeitslos. Jeder der Menschen im Land weiß, dass diese Meldungen schlichtweg falsch sind. Aber keiner regt sich darüber auf. Weil kaum einer die Zeit hat, den originalen BA-Bericht zu lesen. Und viele die Berichtssprache auch nicht ausreichend verstehen.
Hier ein kleiner Auszug, was eigentlich in dem Bericht zu lesen steht:
Lese Dir mal den offiziellen BA-Bericht genauer durch. Dann wirst Du feststellen, dass die Nachrichten lediglich die kurze Zusammenfassung zu Beginn des Berichts wiedergeben. Das Teil mal ordentlich durchlesen und dann ordentlich berichten, dafür ist sich die Presse zu schade.
Weiter hinten in dem Bericht tauchen dann auf einmal Zahlen auf, wie z.B. dass 4,9 Mio Menschen ausschließlich einen Teilzeit-Job haben (und somit nicht als arbeitslos gezählt werden), dass
[...] die sozialversicherungspflichtige Teilzeitbeschäftigung im Vorjahresvergleich um rund 220.000 zu- und die sozialversicherungspflichtige Vollzeitbeschäftigung um rund 420.000 abgenommen haben. Der Rückgang der Vollzeitbeschäftigung hat die Arbeitslosenzahl steigen lassen, während sich der Anstieg der Teilzeitbeschäftigung auch aus der Stillen Reserve gespeist haben dürfte.
Das Grauen geht weiter: 1,074 Mio sind Bezieher von Kurzarbeitergeld,
Die ungeförderten Stellen für „normale“ sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse haben sich im Westen um 72.000 oder 25 Prozent auf 217.000 und im Osten um 5.000 oder 10 Prozent auf 44.000 verringert,
[...] Die Zahl der Leistungsempfänger hat im Vorjahresvergleich zugenommen. Im November erhielten 5.870.000 erwerbsfähige Menschen Lohnersatzleistungen nach dem SGB III oder Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II. Das waren 361.000 mehr als vor einem Jahr.
[...] Die negativen Auswirkungen der Wirtschaftskrise zeigen sich in einem deutlichen Anstieg der Arbeitslosigkeit und der Unterbeschäftigung gegenüber dem Vorjahr.
Anmerkung: Auf Seite 13ff des Berichts wird ausführlich erklärt, dass sich die Definition "wer ist arbeitslos" geändert hat und sich dadurch lediglich ein rechnerischer Rückgang der Arbeitslosigkeit ergeben habe.
Einschließlich des Beschäftigtenäquivalents Kurzarbeit betrug die Unterbeschäftigung 4,843 Mio, 712.000 oder 17 Prozent mehr als im September 2008.
So, jetzt habe ich genug aus dem Bericht zitiert. Lest ihn selbst, den "Bericht des Grauens" ...
Ich verfolge seit Jahren die BA-Berichte, die Statistiken der Bundesbank etc. und vergleiche die dazugehörigen Nachrichten- bzw. Medienberichte. Mir ist keine einzige Nachrichtensendung bekannt, die diese Bericht auch nur halbwegs ehrlich widerspiegelte.
Die Menschen sind übrigens nicht zu faul oder zu dumm, sich um solche Berichte zu kümmern. Sie sind lediglich durch den tagtäglichen Überlebenskampf, sei es als Arbeitnehmer oder als Transfer-Leistungsempfänger zu sehr in Anspruch genommen, um sich auch noch um notwendige Informationen zur aktiven Demokratie-Teilhabe zu kümmern.
Solange wir diesen Umstand nicht geändert haben, bin ich nur eingeschränkt offen für eine "Direkte Demokratie".