von Livia » So 6. Mai 2012, 09:49
Solche Aussagen sollte man nicht immer ernst nehmen, auch wenn es ganz viele Deutsche so empfinden. Die Umfragen belegen, dass über 60% der Schweizer die Deutschen sehr schätzen. Sie sind fleissig, sie belasten unser Sozialsystem nicht, sprechen unsere Sprache auch wenn der Dialekt der hier gesprochen wird, nicht immer verstanden wird, sie helfen die Lücken in Grosskonzernen und im Gesundheitswesen zu schliessen. Gerade im Gesundheitswesen kann auch Frau Rickli profitieren, wenn sie von einem deutschen Spezialisten behandelt wird. Dass das bei gewissen Schichten auch Neid erzeugen kann, darf ma nicht vergessen. Vor allem hat Peer Steinbrück mit seinen Aussagen sehr viele Schweizer zu Recht verärgert. Man darf von einem Politiker erwarten, dass er sich in seinem Wortschatz nicht vergreift, das trifft auch für Frau Rickli zu.
Schonzeit für die Schwaben
Manche Deutsche sind zu Recht eingewandert, manche nicht. Das zeigen Blick und Sonntagsblick.
Von Kurt W. Zimmermann
Es sind exakt 2 209 608. 2 209 608 Schweizer finden, es habe zu viele Deutsche in der Schweiz.
Die Zahl ermittelte eine Umfrage des Sonntagsblicks. Die 2 209 608 sind 36 Prozent aller Schweizer, die in der Schweiz leben.
Auslöser der Umfrage war SVP-Nationalrätin Natalie Rickli. Sie hatte sich auf dem Regionalsender Tele Züri eine kleine politische Unkorrektheit erlaubt. «Die Leute regen sich heute auf, weil zu viele Deutsche im Land sind», sagte sie. Damit trat sie in den Medien eine uferlose Debatte los.
Wäre ich Chefredaktor des Sonntagsblicks, es wäre sonnenklar, welche Schlagzeile ich nach meiner Umfrage nun gesetzt hätte: «Über zwei Millionen Schweizer fordern: Deutsche raus!»Zu meiner Verblüffung titelte der Sonntagsblick genau entgegengesetzt: «Zu viele Deutsche hier? Schweizer sagen nein!»
Dann folgte, noch verblüffender, ein seitenlanges Loblied auf die Nachbarn im Norden («Schweizer mögen Deutsche»). Die Deutschen würden, so jubelte das Blatt, tolle Autos bauen, tolle Biere brauen und erst noch wie toll unseren Käse konsumieren.
Noch merkwürdiger verhielt sich das Schwesterblatt Blick. Als sich nach Ricklis Sottise sämtliche Journalisten auf das Thema warfen und es tagelang zur Staatsaffäre hochstemmten, schwieg der Blick die Deutschen-Story tot. Es erschien keine einzige Zeile dazu.
«Les boches» und «die Piefkes»
Bevor wir das seltsame Verhalten der Blick- Familie erklären, müssen wir kurz an eine eiserne Regel des westeuropäischen Journalismus erinnern. Die Regel heisst: «Immer auf die Deutschen.»
In Frankreich etwa, von Le Parisien bis Le Figaro, gibt es dazu kein Pardon. Wenn sie über die Deutschen schreiben, dann heissen sie auch heute noch despektierlich «les boches». In Österreich, von Kronen-Zeitung bis Standard, nennt man sie prinzipiell «die Piefkes».
In der Schweiz hat es mit den Schwaben auch immer gut funktioniert. Letzter Anlass für launige Deutschfeindlichkeit war Peer Steinbrücks Idee, die Kavallerie in die Schweiz zu schicken, um das Bankgeheimnis zu knacken.
Im neusten Fall klappte es nicht aus personellen Gründen. Denn beide Chefredaktoren auf dem Boulevard sind Deutsche. Ralph Grosse-Bley leitet den Blick, Karsten Witzmann den Sonntagsblick. Beide kamen vor rund zwei Jahren in ihr Amt. Beide waren früher bei der Bild-Zeitung.
Nun gibt es aber einen gewichtigen Unterschied. Grosse-Bley hat den Niedergang der Blick-Leserzahlen gestoppt. Er tat es mit einer Rückkehr zum schnörkellosen Basis-Boulevard alter Schule. Die Frontseite liest sich seitdem wieder so konzis wie vor zwanzig Jahren. Der Raser rast, der Messerstecher sticht, der Seitenspringer springt, und die Witwe weint.
Witzmann hingegen ist mit dem Sonntagsblick auf ungebremster Talfahrt. Die Zeitung ist unter ihm zu einer seltsam blutleeren Plattform der Unverbindlichkeit geworden. Auf der Frontseite macht man mit Themen aus Politik und Gesellschaft auf, die von geradezu provozierender Langeweile sind. Selbst Schlafpillen wie Ständerat Minder oder die Auns schaffen es auf die Eins.
Vor drei Wochen gelang dem Sonntagsblatt gar die schlechteste Schlagzeile der gesamten, weltweiten Boulevardgeschichte. «Quält eure Kinder, damit sie später reich werden» stand fett und abstrus auf der Front. Es war ein Zitat des in London lebenden Schriftstellers Alain de Botton.
Der Blick hat in den letzten zwei Jahren 9000 Leser gewonnen. Der Sonntagsblick hat in den letzten zwei Jahren 75 000 Leser verloren. Nicht alle Deutschen, wie man sieht, sind gut für unsere Wirtschaft.
Kommentare
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George Lips
05.05.12 | 14:15 Uhr
Ich sehe das so. Die Schweizer Aerzteschaft hat aus eigennützigen Gründen (keine Konkurrenz) den Numerus Clausus durchgesetzt. Deshalb hat es zu wenig Schweizer Aerzte. Zweitens genügt die Zahl des Schweizer Personals in Spitälern höchstens für die Betreuung der Schweizer Patienten.Mit der gewaltigen Zunahme ausländischer Patienten(durchschnittlich weniger gesund, da keine Vorsorge)braucht es immer mehr ausl. Personal.
In meinem Spital hat es prozentual mehr ausl.Patienten, als ausl.Aerzte.Also pflegen noch die Schweizer die Ausländer.
Bruno Mair
05.05.12 | 13:45 Uhr
@Zweiacher. Es interessiert nicht was Frau Rickli gesagt hat, aber wie sie es gesagt hat. Ungeschickter kann man es nicht kommunizieren. Sie können es noch so schönreden, das Empfinden aus Sicht des D-Touristen bleibt das gleiche.
Markus Spycher
05.05.12 | 11:35 Uhr
Süderweiterung der BRD
Geehrter Mair, das Problem ist tatsächlich die 'Masse'. Zuviel Sahne, oder meinetwegen Salz, ist ungesund. Beide Substanzen sind aber keinesfalls schlecht - sie können sogar überlebensnotwendig sein.
Wer in Schweizerstädten in gepflegten Naherholungsgebieten vormittags spazieren geht, hört auffallend viele Mütter hochdeutsch mit dem (blonden) Nachwuchs sprechen. Wohlverstanden gute, sorgende Mütter. Das irritiert nicht bloss Rentner und Rentnerinnen. Signifikante Bevölkerungsveränderungen sollten auch von einer Politikerin unverblümt aufs Tapet gebracht werden dürfen.
Romano Zweiacher
05.05.12 | 00:12 Uhr
Frau Rickli hat nichts bezüglich deutscher Touristen erwähnt. Die Mainpresse hat sich mal wieder der unterste Schublade bedient und "Ferien Annullierungen" von deutschen Touristen publiziert.
Sehr billig, aber es gibt immer wieder welche, die darauf hereinfallen!
Frau Rickli hat vollkommen recht, es gibt zu viel Deutsche, und zwar in Schweizer Spitälern. Dass hat sie auch ganz klar zum Ausdruck gebracht. Wo sind denn die Schweizer Ärzte und das Pflegepersonal. Wieso sind das zumeist Deutsche? Das ist hier die Frage und das Thema von Frau Rickli. Was ist daran falsch? Die Schweiz im Luxus!!?
Bruno Mair
03.05.12 | 19:16 Uhr
Frau Ricklis Worte: "Sie habe nichts gegen einzelne Deutsche, aber sie störe sich an der Masse".
Fehlt nur noch die Ventilkausel für D-Touristen. Deutschland hat mit 800'000 Logiernächten mit weitem Abstand den Grössten Touristenanteil in der Schweiz. Somit ist und bleibt der "Deutsche" der wichtigste Kunde in Hotel und Gastronomie.
Wer jetzt sagt... Die Touristen sind ja damit gar nicht gemeint, ist schlussendlich dem "besten Kunden" egal. Die Aussage von Frau Rickli bleibt bei manchen D-Tourist trotzdem hängen.
Rainer Selk
03.05.12 | 09:44 Uhr
Lassen wir mal das Mentalitätsgefälle, vor allem von nödl. des Mainz beiseite (Titel- + Standesbesessenheit, Herr-im-Hause-ruckzuck-zack-zack-Mentalität usw.), dann muss man auch mal die Frage stellen, warum denn D ins Ausland gehen. Mehrheitlich weil sie einen Job suchen. Und wieviel Sozialkosten spart D, wegen dieser 'Exporte'? Geht doch niemand freiwillig von Hause weg. Klar, wir brauchen Fachleutet, egal woher. ABER, ich erwarte, dass die sich als Gäste im Gastland entspr. aufführen.
Die in D herbeigezerrten Aussagen von NR Rickli wurden völlig überzeichnet + falsch wiedergegeben.
Zuletzt geändert von
Livia am Mo 7. Mai 2012, 09:10, insgesamt 2-mal geändert.
Viele Leute würden bereitwillig zugeben, dass sie sich langweilen; aber kaum einer würde zugeben, dass er langweilig ist.
Erich Fromm