Ostergrüße aus Kiew von Charis H.
Osterfreuden
Unsere Katharinenkirche war heute zum Hauptgottesdienst gut gefüllt. Etliche Leute waren mit ihren Kindern gekommen, auch mit ganz kleinen. Obwohl wir definitiv nichts in der Art eines Familiengottesdienstes vorbereitet hatten. Zu meinem großen Erstaunen haben sie musterhaft still gehalten. Auch Julia zum Beispiel, die in die zweite Klasse geht und überhaupt erst seit kurzem zum Kindergottesdienst kommt. Da ist sie sonst recht lebhaft und schnell zu begeistern. Mit großen Augen saß sie heute bei uns in der letzten Reihe. Unsere Gottesdienste mit Übersetzung fordern ja auch von den Erwachsenen viel Geduld. Und ein Festgottesdienst mit winzigen Abstrichen in der Liturgie kann bei uns schon mal zwei Stunden dauern. Die Osterliturgie in der orthodoxen Kirche ist allerdings weitaus länger, dazu kommen die Leute auf leeren Magen aus der Fastenzeit und stehen stundenlang.
Als besonderen Ostergruß hatten fünf junge Menschen aus der Gruppe Junger Erwachsener eine Sammlung von Gedichten zum Thema „Warum ich Jesus liebe“ szenisch aufgearbeitet. Sehr ausdrucksvoll und überzeugend haben sie sie vorgetragen, zum größten Teil auswendig. Und immer, wenn ich dachte, jetzt sind sie fertig, kam noch ein neuer, steigernder Auftritt. Ergreifend!
Auf den Osterwitz, mit dem Ralf seine Predigt gewürzt hatte, kam aus dem russischsprachigen Teil der Gemeine bedeutend mehr Lachen, als aus dem heute auch zahlenmäßig reichlich vertretenen deutschsprachigen Teil.
Der Kirchenchor hatte im Gottesdienst ein weites Repertoire an österlichen Kompositionen zu bieten.
Wir haben also einen wirklich festlichen Gottesdienst mit Abendmahl gefeiert. Sooft Ralf der Gemeinde zurief „Christos woskres!“, kam ein begeistertes „Woistinnu woskres“ zurück. Mit diesem Ostergruß werden wir uns auch in den nächsten Wochen sogar im Alltag grüßen, er bedeutet „Christus ist auferstanden!“ –„Er ist wahrhaftig auferstanden!“
Na, Du christliches, westliches Abendland, willst Du Dir nicht ein Beispiel nehmen an den slawischen Christen und Deine Rückbesinnung auf Deine Grundlagen leben und aussprechen?
Im Vorfeld hatte mich die Leiterin des Chores Schedrik darum gebeten, uns nach dem Gottesdienst mit einem fünfzehnminütigen Konzert erfreuen zu dürfen. Durch die Ereignisse der letzten Monate hatten sie sich, wie sie sagte, nicht so intensiv vorbereiten können. Dieser berühmte Kinderchor probt im „Haus der jugendlichen Künste“, weniger als zehn Minuten von unserer Kirche entfernt, also auch unweit vom Maidan. So hatten die Übungsstunden nicht immer stattfinden können. Aber davon war nichts, aber auch gar nichts zu merken! Über fünfzig Kinder, vor allem Mädchen mit streng geflochtenen Zöpfen, standen vor uns und begeisterten uns mit der Klarheit ihrer Stimmen, der Vielfalt ihrer Klangwelten, bestechender Reinheit in Nuancen von „überaus zart“ (unglaublich: ein Mädchen sang ein Solo in feinstem, innigen Piano gegen den ganzen Chor an. So etwas Vollkommenes habe ich bisher selten gehört!) bis zum „strahlend“. Da störte es überhaupt nicht, dass das Konzert dreimal so lang geriet. Vom lang andauernden Applaus schmerzten mir zum Schluss die Hände und die Leiterin schloss an ihre guten Wünsche zum Abschluss den Wunsch an „dass sich mit unserem Lande alles zum Besten wende…“
Bei einem früheren Kontakt hatte sie mich dezent ahnen lassen, dass sie seit langem von einer Tournee ins Ausland träumen. Wie gerne würde ich ihnen den Wunsch erfüllen. Ich zweifle jetzt auch nicht mehr daran, dass sie ohne weiteres in eine Kirche wie den Berliner Dom oder die Marienkirche in Berlin passen würden. Ich erinnere mich an ein Gespräch im Internationalen Frauenclub, bei dem eine Polin uns eine Weißrussin, beide hochgebildete, zutiefst sympathische Frauen sehr engagiert erzählten, dass es solche Besuche in Deutschland waren, die ihnen als jungen Mädchen Hoffnung und Motivation gaben, ehrgeizig auf eine gute Ausbildung und Sprachkenntnisse hin zu arbeiten. Und zwar nicht mit dem Ziel, sich irgendwann in den Westen abzusetzen, sondern um in ihrem Land etwas zu bewegen. Dass sie dann viel später von erfolgreichen deutschen Männern weggeheiratet wurden, darf ich guten Gewissens als ein für unsere Gemeinde günstiges Schicksal bezeichnen. Sie betonten, wie wichtig es damals für sie war, zu sehen, dass ein Land und ein soziales System gut funktionieren kann.
Zum nun schon traditionellen Osterspaziergang in den Marinsky Park schenkte uns Gott wider Erwarten sehr schönes Wetter. Eine Gruppe von mehr als zwanzig Leuten, Gemeindeglieder und Gäste haben sich wieder zum gemeinsamen Picknick auf den Weg gemacht. Schön war es, auf ungezwungene Weise zusammen zu sein. Gesprächsstoff hatten wir jede Menge. Auf dem Rückweg hatte ich mich schon beinahe innerlich verabschiedet, da bat mich Wolodja für Andreas einiges zu übersetzen. „Erinnern Sie sich? Als ich sie damals auf dem Maidan getroffen habe, habe ich zu Ihnen gesagt: <Einen bewaffneten Konflikt kann es in der Ukraine nicht geben.>“ begann er. Andreas bejahte. „Ich habe mich damals getäuscht.“ fuhr Wolodja fort. „Ich bin von dem ausgegangen, was ich mir vorstellen konnte. Aber ich habe nicht mit dem gerechnet, was in deren Köpfen vor sich ging. Jetzt hat sich die Situation völlig verändert, sodass ich sagen muss, es ist sehr wahrscheinlich, dass es einen Krieg geben wird.“ Andreas nickte. „Das meine ich auch.“ Es entspann sich nun ein Gespräch, das mir sehr schwer zu übersetzen wurde. Ich hätte nie gedacht, dass ich als überzeugte Pazifistin eine Tages in die Lage kommen würde, für zwei Männer aus unterschiedlichen Kulturkreisen ihre Gedanken über Bewaffnung jeweils in die andere Sprache zu übertragen.
Als es an Bezeichnungen für Typen von Maschinengewehren und Dienstgrade geht, merke ich an, dass ich als Pazifistin bis jetzt solche Termini immer umschifft habe. Ich wollte sie nicht wissen. Es ist unmöglich für mich, das genau zu übersetzen. Da legt mir erst der Eine, dann der Andere auseinander, dass sie vor allem als Christen handeln wollen und deshalb auch in erster Linie Pazifisten sind. „Ja, Gott hat uns das Gebot gegeben <Du sollst nicht töten.>“ sagt Wolodja. „Und Christus hat gesagt: <Mit dem Maß, mit dem du misst, wirst du gemessen werden.> Ich will nicht töten. Aber wenn das Land nicht verteidigt wird, so werden die Okkupanten es besetzen und ihren Mutwillen damit treiben. Da bin ich in die Verantwortung gerufen. Es ist schwierig zu entscheiden, wie wir handeln sollen. Aber es liegt alles in Gottes Händen.“ Je länger das Gespräch andauert, desto mehr Übereinstimmungen finden die beiden so unterschiedlichen Männer in ihren Überzeugungen. Hätte man sich so etwas zu Zeiten des Eisernen Vorhangs vorstellen können?
Vor der Kirchentür angelangt, wechsle ich noch ein paar Worte mit Marina. Sie sagt: „Als es gelungen war, Janukowitsch zu vertreiben, da fühlte ich mich so heiter und gelöst. Und jetzt ist alles so unwirklich und schrecklich. Ich selber bin russischsprachig. Wir haben einen Teil unserer Verwandten in Russland. Meine Großmutter ist fest von der russischen Propaganda überzeugt. Mein Großvater denkt zum Glück selbstständiger. Sollen die dort jetzt alle unsere Feinde sein? Und wie wird das - werden wir sie überhaupt noch wiedersehen können?“