netzwerkB Pressemitteilung 06.07.2012
Offener Brief an:
Ministerpräsidentin Hannelore Kraft
Staatskanzlei des Landes Nordrhein-Westfalen
Stadttor 1
40190 Düsseldorf
Fax: 0211/837-1150
hannelore.kraft@spd.deHUNGERSTREIK Tag 29

Ihr Schreiben vom 28.06.2012
Sehr geehrte Frau Kraft,
leider haben Sie auf unsere Anfrage, wie sie zur Aufhebung der
Verjährungsfristen stehen, noch nicht persönlich Stellung bezogen und ihren
parlamentarischen Geschäftsführer eine Antwort ausfertigen lassen.
Dementsprechend unpersönlich fällt auch ihr Antwortschreiben auf unsere
Anfrage, wie sie zur Aufhebung der Verjährungsfristen stehen, aus. In einem
doch sehr ausführlichen Brief verweist der parlamentarische Geschäftsführer
vor allem auf die Bemühungen der SPD sexualisierte Gewalt durch
Beratungsinstitutionen und diverse Präventionsmaßnahmen einzudämmen.
Selbstverständlich schätzen wir zwar auch die Bemühungen, haben hierin
aber wenig Hoffnung auf Erfolg, weil die gesammelten Bemühungen entweder
auf Symptome abzielen oder schlicht zu kleinschrittig sind, um wirklich
etwas zu verändern. Die Wurzeln sexualisierter Gewalt liegen nach
Auffassung von netzwerkB tiefer in unserer Gesellschaft und der
Vergangenheit unserer Gesellschaft verborgen. Wir brauchen ein mutigeres
Vorgehen und müssen zeigen, dass wir es wirklich ernst meinen, wenn wir
sexualisierte Gewalt an den Wurzeln bekämpfen wollen.
Was ist gemeint? Solange Betroffene, die klagen wollen und nach Beweislage
klagen können, nicht klagen dürfen, so lange können wir nicht davon
sprechen, dass unsere Bemühungen ernst gemeint sind. Es ist doch
bezeichnend, dass wir so viele Maßnahmen, die vor allem Geld kosten,
beschließen, den Kernaspekt aber außer Acht lassen. Wenn wir einem
Betroffenen sagen, der Jahre lang an Depressionen litt, die auf verdrängte
sexualisierte Gewalt in der Kindheit zurückgehen, er hätte sich schlicht
früher erinnern müssen, dann wirkt unser Rechtssystem kühl, zynisch und vor
allem nicht gerecht. Wenn wir diesem Betroffenen dann zwar Hilfen anbieten,
ihm aber nicht das Recht geben, die grausamsten Taten, die unsere
Gesellschaft kennt, auch in einem fairen Prozess zu thematisieren, dann
wirkt all unser Handeln - wie auch die dargestellten Handlungen in ihrem
Brief – wie zynische Beschwichtigung.
Verstehen Sie, Betroffene sind tief mit Ihrer Geschichte belastet und bei
wahrhafter Auseinandersetzung mit diesem Leid müssen wir dieses ernst
nehmen. Wir zitieren daher aus einem Brief einer Betroffenen, die ihr Leid
auf netzwerkB veröffentlichte:
„Ich wurde von einem Mann zuhause in der Badewanne unter Wasser gedrückt.
Ich war bis zu 6 Jahre alt. Ich wurde von einer Gruppe Männer als kleines
Mädchen (älter als 4 oder 5 war ich wohl nicht) sexuell missbraucht.
Manches sehe ich nicht. Mein Bewusstsein schützt mich, und macht das Tempo
mit dem ich umgehen kann.“
Das Nicht-Erinnern, was viele Betroffene „praktizieren“ schützt die Seele,
um bei den grausamen Taten nicht noch weiter Schaden zu nehmen. Wenn Sie,
Frau Kraft, nun für die Verjährungsfristen eintreten (gleichwohl Sie eine
Verlängerung dieser anstreben) dann werden Sie diesem Schutzmantel nicht
gerecht und verlangen kühl diesen Schutzmantel, der nur sehr langsam und
behutsam gelöst werden kann (wenn überhaupt) vorzeitig aufzugeben. Diese
Ihre Forderung ist für Tausende von Betroffenen vollkommen utopisch. Mit
diesem kleinschrittigen Vorgehen, die Verjährungsfristen allenfalls zu
verlängern, lassen Sie alle Betroffenen auf der Strecke, die zu dieser
Klage aus psychischen Gründen einfach noch nicht bereit sein können. Bei
den im oben geschilderten Fall dramatischen Ereignissen bezweifeln wir von
netzwerkB so zum Beispiel, dass jemand, der mit 38. Jahren in der Mitte
seines Familien- und Berufsleben steht, dieses Risiko – wenn er denn
überhaupt die Wahl hätte – in Kauf nehmen würde und den Täter anzeigt. Eine
derartige Tat präzise und mit allen Details zu schildern, braucht
unendliche Kraft, die Betroffene erst erlangen müssen. Der SPD-Vorschlag,
auch wenn Sie ihn gegenüber den anderen Parteien, als radikalsten
auszeichnen wollen, wird dieser Thematik unter keinen Umständen gerecht.
Während wir hier debattieren, holt die Betroffenen die Vergangenheit ein
(die Vergangenheit, die wir ihnen im Recht verwehren) und wirkt sich ebenso
dramatisch auf das ganze Leben aus:
„Mein Leben als Kind bestand daraus, dass ich die Dinge erlebte, die ich
erlebte, und dann, wenn Übergriffe stattfanden die Gnade der Dissoziation
erfuhr, die mich wegtrug, das heißt, während meines ganzen Lebens, bis
langsam nach und nach immer wieder etwas aufbrach, war es als gäbe es nur
die helle Seite der Familie und meine ganzen Instinkte und Gefühle wären
falsch.
Immer noch ist meine Erinnerung oft verborgen, gibt es blinde Flecken, sind
Dinge hinter den Barrieren. Ich habe sehr viele Amnesien, und auch im
täglichen Leben, viele Folgen bestehend aus Konzentrationsstörungen, etc..
was mir auf ganzer Linie im ganzem schulischen/beruflichen Bereich sehr
viel zu Nichte gemacht hat.
Ich konnte nie Abi machen, war viele Jahre in einer weltanschaulichen
Schule isoliert, Mobbing ausgesetzt, jeden Tag über viele Jahre mit Panik
und Bauchweh in die Schule und nahm eigentlich dort sowieso nur körperlich
teil, weil mein Leben aus ständigem Dissoziieren bestand, was ich erst nach
Jahren der Aufarbeitung begriffen habe.“
(
http://netzwerkb.org/2012/06/16/so-ging-ich-ohne-abschluss-ab/)
Liebe Frau Kraft, dieses sind nur Auszüge von einem durch den Täter
verpfuschten Leben. Die Gnade der Dissoziation, die die Betroffenen vor
weiteren Verletzungen schützte, schützt nach gegenwärtiger Rechtslage und
auch nach Ihrer vorgeschlagenen Verlängerung der Verjährung bis zum 38.
Lebensjahr den Täter. Momentan ist es vor allem so, dass damit der Täter,
der den Betroffenen am stärksten traumatisiert, die größte Chance auf
Straffreiheit erhält. Auch wenn die SPD – wie ihr Stellvertreter darlegt -
daher die Erhöhung der Verjährung auf 20 Jahre bei gleichzeitiger Hemmung
bis zum 18. Lebensjahr fordert, so ist der Glaube, damit Betroffenen zu
helfen, verfehlt. Sie schützen mit den verbleibenden Verjährungsfristen die
Täter solch grausamer Verbrechen.
Wo soll hier Gerechtigkeit sein? Wo soll hier Vertrauen in unsere
Rechtsordnung entstehen? Es wäre so einfach für Sie, sich auf Seiten dieser
Betroffenen und aller Betroffenen zu stellen. Der Satz „Die
Verjährungsfristen bei sexualisierter Gewalt müssen aufgehoben werden“ wäre
mit Recht und einfach ausgesprochen, hiermit würden Sie sich zugleich
unmissverständlich gegen sexualisierte Gewalt positionieren und die
Radikalität und „Besonderheit“ dieses Verbrechens für die Seele anerkennen.
Wir brauchen daher keine lange Reden oder Darstellungen anderweitiger
Bemühungen. Wir brauchen jemanden, der das Leid der Betroffenen, die durch
die Täter verhöhnt werden, endlich anhört und dann auch angemessen
anerkennt.
Schauen Sie in die Rechtfertigung ihres parlamentarischen Geschäftsführers,
so führt dieser bereits die Gründe für die Aufhebung ins Feld: Es geht um
die Wiederherstellung der Rechtsordnung und die Stärkung des Vertrauens der
Gesellschaft in die Rechtsordnung. Auch die von ihm angeführte
Generalprävention stellt für uns einen gewichtigen Punkt dar. Anders als in
dem Schreiben dargestellt, sehen wir von netzwerkB jedoch nicht, dass diese
Gründe mit dem zeitlichen Abstand zum Verbrechen an Gewicht verlieren
würden. Die Folgen des Verbrechens betreffen das ganze Leben des
Betroffenen. Der Betroffene wird immer wieder von Ängsten und Scham, von
Depressionen und Selbstmordabsichten eingeholt werden und er wird es
besonders schwer haben, darüber zu sprechen. Bei den massiven Verbrechen an
der kindlichen Seele, wie oben dargestellt, müssen wir daher der
Gesellschaft endlich zeigen, dass wir mit einer passenden Rechtsordnung die
Betroffenen ernst nehmen und dies geht nur mit der Aufhebung der
Verjährungsfristen bei sexualisierter Gewalt.
Liebe Frau Hannelore Kraft Vertrauen in unsere Rechtsordnung entsteht bei
vielen nicht, wenn Sie sehen, dass Täter derartig grausamer Verbrechen
geschützt werden. Wir von netzwerkB brauchen uns daher nicht mit den
spezifischen Details zur konkreten Prävention durch Frauenhäusern, mit
K.O.-Tropfen oder Finanzierungsfragen für Hilfsinstitutionen aufhalten, uns
geht es um den größten Hebel, um die allererste Gerechtigkeit, die den
Betroffenen widerfahren muss. Die Betroffenen brauchen ihr Recht. Wenn Sie,
Frau Kraft, hier nicht tätig werden, wird ihnen niemand ihr Engagement
gegen sexualisierte Gewalt abnehmen. Treten Sie öffentlich für die
vollständige Aufhebung der Verjährungsfristen bei sexualisierter Gewalt
ein, weil Sie damit in erster Linie für das Recht der vielen Betroffenen
eintreten und nicht weiterhin indirekten Täterschutz vollziehen und
fortsetzen.
Freundliche Grüße
Norbert Denef
–
Mehr auf netzwerkB:
http://www.avaaz.org/de/petition/Eine_Reform_der_Gesetze/?cuHZmbbhttp://netzwerkb.org/2012/06/08/ich-bin-im-hungerstreik-2/–
Für Journalisten-Rückfragen:
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Norbert Denef, Vorsitzender
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