netzwerkB Pressemitteilung 28.06.2012
Offener Brief an:
Dr. Ursula von der Leyen, MdB
Platz der Republik 1
Jakob-Kaiser-Haus
 Raum: 5.442
11011 Berlin
E-Mail:
ursula.vonderleyen@bundestag.deTelefon: 030/227 – 71659
Fax: 030/227 – 76234
Sehr geehrte Frau Dr. von der Leyen,
Die Politik macht es sich mit der Aufhebung der Verjährungsfristen leicht.
Entsprechende Anfragen und Argumente werden schnell von den einzelnen
Politikern an das Ressort „Justiz“ weitergegeben und dann mit
Rechtsdogmatik abgewiesen. Von ihren eigenen Meinungen enthalten sich die
meisten Politiker.
So war es auch zu erwarten, dass Sie, Frau Dr. von der Leyen, die Anfrage
eines Mitglieds von netzwerkB schlicht an das Ressort „Justiz“ abgeschoben
haben. Schließlich zitiert eine Vertreterin von Ihnen eine andere Meinung,
die aus dem Ressort „Justiz“ kommt. Die Argumente bleiben juristisch
unterkühlt und in Betracht der spezifischen Verbrechen der sexualisierten
Gewalt unzureichend. Zentrales Argument lautet:
„Auch bei Ansprüchen wegen sexuellen Missbrauchs kann aber nicht ganz auf
die Verjährung verzichtet werden. Dies dient der Rechtssicherheit und dem
Rechtsfrieden. Es gibt nur ganz wenige Ansprüche die unverjährbar sind.
Dabei handelt es sich immer um Ansprüche, die sich auch nach längerer Zeit
noch sicher feststellen lassen. Schadensersatzansprüche wegen sexuellen
Missbrauchs sind keine solchen Ansprüche. Bei ihnen sind – wie bei anderen
Schadensersatzansprüchen – Entstehung und Umfang häufig umstritten und umso
schwerer feststellbar, je länger die Verletzung und der Schaden
zurückliegen. Es wäre lt. BMJ nicht sinnvoll, diese Ansprüche von der
Verjährung auszunehmen, denn unverjährbare Ansprüche, deren Voraussetzungen
regelmäßig nach längerer Zeit nicht mehr bewiesen werden können, nützen den
Opfern nicht.“
Die anhaltende Rechtfertigung auf Grundlage von historischer Anerkennung
von Verjährungsfristen (ein Verweis darauf, dass etwas schon immer getan
wurde und deswegen auch so weiter getan werden könne) wie auch die
systematische Rechtfertigung von Verjährungsfristen (wobei das System
gleichwohl auch ein historisches Gefüge darstellt) dies ist die gewohnte
politische Mauer auf die netzwerkB trifft.
In diesem gesonderten Fall aber schlägt uns wieder eine Position entgegen,
wobei wir davon ausgingen, dass diese schon längst als ausgeräumt galt. In
der Antwort heißt es doch, die Schadensersatzansprüche seien umstritten und
dies sei ebenso wie bei anderen Schadensersatzansprüchen auch. Die Antwort
ist schockierend. Glauben Sie, Frau Ministerin, tatsächlich was ihre
Mitarbeiterin unkritisch aus dem Ressort „Justiz“ übernimmt? Sollten sie
als ehemalige Ministerin für den Bereich „Familie“ hier nicht einen anderen
Blick haben?
Zunächst aber kurz zu Ihrer Behauptung, es gäbe nach zu langer Zeit keine
Beweise, denn dies muss auch kurz ausgeräumt werden: Es gibt Betroffene,
die haben Beweise. Sie haben Zeugen, es liegen wie im Fall von Norbert
Denef Geständnisse vor und Betroffene haben vor allem nach intensiver
Traumabewältigung, was Jahrzehnte dauern kann, vor allem ein klares
Bewusstsein über das, was schließlich vorgefallen ist. Diesen sprechen sie
mit Verjährungsfristen das Recht ab, zu klagen, indem Sie pauschal
urteilen, es wäre nicht beweisbar. Sollte aber diese Beweisfrage zur
Prüfung nicht endlich den Gerichten vorgelegt werden? Wieso obliegt es
eigentlich Politikern dies zu beurteilen?
Aber kommen wir zu dem eigentlichen Skandal, der Tatsache nämlich, dass Sie
objektive Schadensersatzansprüche bestreiten. Wir von netzerkB wie auch
viele Psychologen, Psychiater, aber vor allem auch die normal denkenden
Menschen erachten nach Konfrontation mit den tiefgreifenden Verbrechen an
der kindlichen Psyche die Zusammenhänge zwischen sexualisierter Gewalt und
schweren psychischen Schäden für unbestreitbar. Wir von netzwerkB
behaupten, würden Sie sich mit dem Leid von Betroffenen intensiv
auseinandersetzen, dann würden Sie nicht eine derartige Antwort aus dem
Ministerium für Justiz weiterleiten lassen.
Lassen Sie uns, um das Ganze zu verdeutlichen auf den netzwerkB-Artikel
„Weil meine Seele am überlaufen ist“ verweisen. Die Autorin beschreibt ihr
Leid deutlich. Sie schildert in kurzen aber prägnanten Auszügen wie ihr
Alltag von verschiedenen Zwangshandlungen durchzogen war und schwerwiegende
Körperreaktionen ihren Alltag deutlich negativ beeinflussten. Der Text
spricht an dieser Stelle für sich selbst:
„Abends stellte ich mir den Wecker, so dass dieser stündlich klingelte,
damit ich bloß nicht tief einschlief – warum ich das tat, wusste ich zu der
Zeit nicht. Es war einfach eine unerträgliche Angst da, das Gefühl zu
ersticken und verrückt zu werden. Nach mehreren Zusammenbrüchen, deutete
mein Arzt an, ich sollte mich in eine Klinik für Traumata begeben. Sechs
Monate war ich in der Hölle des Unerträglichen, zu schwach um zu leben und
zu schwach um mich umzubringen. Immer wieder hatte ich entsetzliche Träume,
es waren Fetzen, Bruchstücke von Bildern, Personen, die nicht klar zu
erkennen waren. Dazu immer wieder Erstickungsanfälle,
Herzstörungen,Vaginalblutungen und andere Körperteilschmerzen, die
unerträglich waren.“
Was dem Betroffenen aus Angst und Scham nur undeutlich ins Bewusstsein
gelangt, was in der Vergangenheit, in der Erinnerung unterdrückt wird,
können Außenstehenden mit halbwegs Gefühl sehr schnell eindeutig
nachvollziehen. Die Autorin beschreibt dies sehr genau. Wir hoffen Sie
haben die Kraft und nehmen sich die Zeit dies weiter zu lesen:
„Während der 6 Monate in der Klinik, setzten sich Bruchstücke von
Erinnerungen zusammen. Durch die Traumaarbeit kam letztendlich meine
Kindheit zurück, die mein ganzes Leben zerstörte. Der Opa war der Täter, er
war ein Sadist, ausgeprägter Machtbezogener Mensch. Früher war er tätig in
einem KZ, als Aufseher, aus dieser Zeit legte er mir immer und immer wieder
Fotos, die er gemacht hatte, vor. Zu sehen waren Mütter und ihre Kinder in
Massengräbern oder wie sie gerade brutal und bestialisch misshandelt und
vergewaltigt wurden. Dies war sein Schweigemittel, ich musste ruhig
bleiben, sonst wäre meine Familie umgebracht worden. Noch heute habe ich
diese Fotos in meinem Kopf, am Tag und nachts in meinen Träumen.“
Wir laden Sie gerne dazu ein, zu diskutieren, welch dramatischen Folgen und
in welchem präzisen Ausmaße die spezifischen Druckmittel der Täter Ängste,
Depressionen und Zwangshandlungen auslösten, aber dass hier ein mehr als
deutlicher Zusammenhang besteht, der zu berechtigten
Schadensersatzansprüchen führt, können Sie als ehemalige Ministerin für
Familie doch nicht wirklich bestreiten?
Die Autorin schreibt noch eindringlicher:
„Dann kam der Nazi-Opa und grinste, er zog sich komische Hosen (heute weiß
ich, es war eine Naziuniform) an, Lederstiefel und eine Uniformjacke an und
fing an zu schwitzen (dieser Geruch ist noch heute präsent), sobald ein
Mensch in meiner Gegend diesen Geruch hat, bekomme ich Panikattacken. Ich
musste ihm zum WC folgen, er hob mich auf den Toilettendeckel und fasste
mich an, befriedigte sich an meinem Anus, zwischen den Beinen und ich
musste ihn oral befriedigen. Auch seine sadistische Ader lebte er an mir
aus. Noch heute rieche ich diesen Kerl. Nach dem er fertig war, verlief
immer die gleiche Abwicklung – Wasserhahn auf – Mund unendlich spülen –
meine Genitalien wusch er mit Hingabe und dann musste ich mich ganz brav an
den Esstisch setzen. Er ging in die Küche und zerstampfte Bananen zu Brei,
diesen musste ich mit wiederwillen essen.“
Ich hoffe Ihnen wird klar, dass es sich bei den Betroffenen, die wir
vertreten, um Menschen mit zerschlagener Kindheit handelt. Verbrechen
dieser sexualisierten Gewalt haben eine Qualität, die sich so nicht mit
anderen Verbrechen gleichsetzen lässt (nicht im Hinblick auf
Schadensersatzansprüche, aber auch nicht im Vergleich zu dem tiefen
Schaden, der daraus erfolgt). Der Machteinfluss des Täters und dies über
Jahre hinweg lässt schließlich aufgrund der Vielzahl von Taten keine
einzelne Tat kausal zu einer spezifischen Reaktion in Bezug setzen, so wie
sie es mit ihren mageren Zitaten aus dem Justizministerium präsupponieren.
Der kausal eindeutigen Erfassung sind hier durchaus Grenzen gesetzt, gerade
weil es so viele verbrecherische Taten eben in einer Kindheit sind und wir
es ebenso mit komplexen Traumata zu tun haben. Gleichwohl aber sieht doch
jeder Mensch mit Vernunft und Gefühl sofort ein, dass hier ein kausaler
Zusammenhang zwischen allen Taten und den komplexen Folgebelastungen
besteht und dass hier die Schadensersatzansprüche nicht umstritten sein
können, wie Sie in Ihrem Schreiben tatsächlich behaupten.
Wenn Sie nach solchen Schilderungen, von denen es mehr als hundertausende
entsprechende Schicksale gibt, tatsächlich darauf bestehen, dass die
Zusammenhänge für den Gesetzgeber nur schwer nachvollziehbar seien und so
die Schadensersatzforderung umstritten ist, dann fallen sie eben auf jene
Rechtsdogmatik herein, die den Tätern seit Jahren geholfen hat, derartige
Gräuel ohne Strafe zu vollziehen. Wir empfehlen Ihnen daher dringend, sich
mit dem Leid der Betroffenen auseinanderzusetzen. Gehen Sie in die
Traumakliniken, reden Sie vor allem mit Betroffenen und machen Sie die
Entscheidung der Verjährungsfristen zu einer Entscheidung, die nicht von
Rechtsdogmatikern ohne Blick für die tatsächlichen Umstände abhängt oder
Ihnen schlicht reingereicht wird. Als Politikerin haben Sie mit ihrem
Gewissen eine andere Verpflichtung. Machen Sie die Frage der
Verjährungsfristen als ehemalige Familienministerin und auch als Ministerin
für Arbeit und Soziales zu einer Gewissensfrage.
Sehr geehrte Frau Dr. von der Leyen,
weil Verjährungsfristen für Betroffene von sexualisierter Gewalt ungerecht
sind bin ich seit dem 8. Juni 2012 in einen unbefristeten HUNGERSTREIK
getreten:
http://netzwerkb.org/2012/06/08/ich-bin-im-hungerstreik-2/Hoffnungsvolle Grüße
Norbert Denef
–
Für Journalisten-Rückfragen:
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