Das Beschneidungsurteil und seine weitreichenden Folgen

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Re: Das Beschneidungsurteil und seine weitreichenden Folgen

Beitragvon Livia » So 14. Okt 2012, 08:41

Bei uns sind diese Mädchenbeschneidungen endlich verboten worden.

Genitalverstümmelung: Die neue Strafnorm tritt per 1. Juli 2012 in Kraft

Der Bundesrat setzt die neue spezifische Strafnorm gegen Verstümmelung von weiblichen Genitalien per 1. Juli 2012 in Kraft. Das Strafgesetzbuch wird um den Artikel 124 ergänzt. Demnach macht sich strafbar, «wer die Genitalien einer weiblichen Person verstümmelt, in ihrer natürlichen Funktion erheblich und dauerhaft beeinträchtigt oder in anderer Weise schädigt».

Tätern und Täterinnen droht nun eine bis zu 10-jährige Freiheitsstrafe. Die Verjährungsfrist für die Strafverfolgung wird einheitlich auf 15 Jahre festgesetzt. Bei Opfern unter 16 Jahren ist die Verfolgung der Tat mindestens bis zum vollendeten 25. Lebensjahr möglich.

Alle Formen der Genitalverstümmelung verbieten

Sexuelle Verstümmelung stellt eine schwerwiegende Verletzung der Integrität und der Würde der betroffenen Mädchen und Frauen dar. Seit Jahren verlangen die verschiedensten Menschenrechtsgremien und Organisationen ein Verbot, unter ihnen auch UNICEF Schweiz, welche die bisherige Regelung als ungenügend beurteilte. Sie schätzt, dass in der Schweiz rund 7000 Frauen und Mädchen von entsprechenden Eingriffen betroffen oder bedroht sind. Dennoch kam es lediglich zu zwei Prozessen wegen Genitalverstümmelung. Strafbar war sie in der Schweiz bisher sofern sie als schwere Körperverletzung im Sinne von Artikel 122 Strafgesetzbuch bewertet wurde, was nur für die Infibulation und die Exzision der Fall war.

Der neue Straftatbestand stellt nun sämtliche Formen der Genitalverstümmelung unter Strafe. Gleichzeitig konkretisiert er, dass eine Genitalverstümmelung auch dann verboten ist, wenn eine volljährige Person in den Eingriff einwilligt. Ausnahme sind leichte Eingriffe wie Tattoos, Piercings oder gewisse ästhetische Eingriffe im Genitalbereich. Neben der Erfassung aller Formen ungewünschter genitaler Verstümmelung erhoffen sich Politik, Behörden und Fachkreise vom expliziten Verbot eine symbolisch abschreckende Wirkung. Genitalverstümmelungen gelten auch künftig als Offizialdelikte. Bestraft werden nicht nur Personen, welche die Verstümmelung vornehmen, sondern als Mittäter und Anstifter z.B. auch die Eltern.

Schützt das Weltrechtsprinzip die Mädchen wirklich?

Ebenfalls strafbar machen sich nach der neuen Regelung Personen, die eine Genitalverstümmlung im Ausland durchgeführt haben, auch wenn diese dort nicht strafbar ist. Damit soll verhindert werden, dass Kinder, die in der Schweiz aufwachsen zur Beschneidung in ihre Heimatländer zurückgeführt werden.

http://www.humanrights.ch/de/Schweiz/In ... ntent.html

Meines Erachtens wäre das auch für Beschneidungen bei Knaben anzuwenden.
Viele Leute würden bereitwillig zugeben, dass sie sich langweilen; aber kaum einer würde zugeben, dass er langweilig ist.

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Re: Das Beschneidungsurteil und seine weitreichenden Folgen

Beitragvon AlexRE » So 14. Okt 2012, 13:53

Livia hat geschrieben:Schützt das Weltrechtsprinzip die Mädchen wirklich?

Ebenfalls strafbar machen sich nach der neuen Regelung Personen, die eine Genitalverstümmlung im Ausland durchgeführt haben, auch wenn diese dort nicht strafbar ist. Damit soll verhindert werden, dass Kinder, die in der Schweiz aufwachsen zur Beschneidung in ihre Heimatländer zurückgeführt werden.

http://www.humanrights.ch/de/Schweiz/In ... ntent.html

Meines Erachtens wäre das auch für Beschneidungen bei Knaben anzuwenden.


Das ist eine interessante juristische Frage:

Gerade diese Regelung wird von einigen Organisationen als Stärke gesehen. Allerdings hatte das Kompetenzzentrum für Menschenrechte (SKMR) im Juni 2011 auf Nebeneffekte dieser Regelung hingewiesen, die neue Menschenrechtsfragen aufwerfen. Das weitreichende Verbot steht demnach in Konkurrenz mit Artikel 7 EMRK, der festhält, dass niemand für eine Tat bestraft werden darf, welche «zur Zeit der Begehung nach innerstaatlichem oder internationalem Recht nicht strafbar war.»


Ich lese das Rückwirkungsverbot nicht so, dass es der Internationalisierung nationalen Rechts entgegenstehen soll. Wenn einzelne Staaten ihr Recht dergestalt internationalisieren, dass die Souveränität anderer Staaten, die Menschenrechtsverletzungen (pseudo-) legalisieren, graduell beeinträchtigt wird, ist es m. M. n. eher einer Frage der internationalen Anerkennung dieses Vorgehens, ob wirklich wirksames "Weltrecht" aus dem speziellen innerstaatlichen Recht werden kann.

Dass das neue Gesetz auch auf die Knabenbeschneidung anzuwenden sei, sehe ich nicht. Das ist doch ein Spezialgesetz, das Fragen rund um die Körperverletzung ausräumen soll.
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Re: Das Beschneidungsurteil und seine weitreichenden Folgen

Beitragvon AlexRE » Mo 31. Dez 2012, 15:54

Ein niedersächsischer Landtagskandidat der Grünen will wegen der Beschneidungspraxis im Falle eines Wahlsiegs auf sein Mandat verzichten. Ich habe das auf dem Spiegel - Forum kommentiert:

Sehr ehrenhaft ...

... aber Einzeltäter, die sich auf die Seite des Grundgesetzes stellen, sitzt die übergroße Mehrheit der parlamentarischen Verfassungsrechtsbeuger in den etablierten Parteien leicht aus. Wer die grundgesetzliche Ordnung (wieder-) beleben will, muss schon neue demokratische Parteien wie die Piraten wählen.


http://www.spiegel.de/politik/deutschla ... tsBoxPager
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Re: Das Beschneidungsurteil und seine weitreichenden Folgen

Beitragvon Excubitor » Di 1. Jan 2013, 13:47

AlexRE hat geschrieben:Ein niedersächsischer Landtagskandidat der Grünen will wegen der Beschneidungspraxis im Falle eines Wahlsiegs auf sein Mandat verzichten. Ich habe das auf dem Spiegel - Forum kommentiert:

Sehr ehrenhaft ...

... aber Einzeltäter, die sich auf die Seite des Grundgesetzes stellen, sitzt die übergroße Mehrheit der parlamentarischen Verfassungsrechtsbeuger in den etablierten Parteien leicht aus. Wer die grundgesetzliche Ordnung (wieder-) beleben will, muss schon neue demokratische Parteien wie die Piraten wählen.


http://www.spiegel.de/politik/deutschla ... tsBoxPager


Zieht er das durch, verdient er Anerkennung...

Nur leider kann man diese Partei aufgrund ihrer desolaten Situation und den ausdiskutierten unrealistischen Programmpunkten, wenn man da überhaupt von Programm reden kann, leider, genau wie aus anderen Gründen die Etablierten, nicht wählen.
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Re: Das Beschneidungsurteil und seine weitreichenden Folgen

Beitragvon AlexRE » Di 1. Jan 2013, 21:17

Gerade bei DrWo auf Facebook gesehen:

Professor fordert Legalisierung von Genitalverstümmelung für Mädchen

Der ägyptische Gynäkologe Mohamed Kandeel fordert nach der Legalisierung der Knabenbeschneidung (in Deutschland) nun auch die weltweite Legalisierung der Mädchenbeschneidung, “wenn es die Eltern so wollen”, sagt Kandeel, würde nichts dagegen sprechen. In einem jüngst erschienenen Aufsatz behauptet er, die Mädchenbeschneidung hätte keinerlei nachweisliche Nachteile für die Betroffenen Frauen.

Er stellt auch einen klaren Zusammenhang zur Knabenbeschneidung her und kritisiert einen Sexismus, der zwar die Beschneidung der Mädchen kriminalisiere, gleichzeitig aber bei Knaben den Eingriff aus religiösen Gründen erlaube.

(...)


http://www.humanist-news.com/professor-fordert-legalisierung-von-genitalverstummelung-fur-madchen/

Das habe ich dort als Kommentar hinzugefügt:

Immerhin ist der Typ im Gegensatz zu den deutschen Parlamentariern keiner Verfassung verpflichtet, die so etwas (Mädchen- UND Knabenbeschneidung) ganz unmissverständlich verbietet. Insofern haben wir bei genauer Betrachtung ein größeres Menschrechtsproblem als die Ägypter. Die haben noch keinen hohen Stand der Rechtskultur erreicht. Wir dagegen haben den höchsten Stand der Rechtskultur in der deutschen Geschichte erreicht und können noch nicht einmal die Hauptpostulate der grundgesetzlichen Ordnung in gesellschaftliche Realität umsetzen oder auch nur das tatsächlich Erreichte stabilisieren. Menschenwürde, körperliche Unversehrtheit von Kindern und Alten, Sozialstaatsprinzip oder Sozialpflicht des Eigentums - ob mit oder Ewigkeitsgarantie nach Art. 79 III GG, alles ist nur noch Asche, sobald es dem korrupten und dekadenten Establishment im Wege ist. Damit ist die Bundesrepublik und deren grundgesetzliche Ordnung schlicht und ergreifend ein vor der deutschen Geschichte gescheitertes politisches Experiment.
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Re: Das Beschneidungsurteil und seine weitreichenden Folgen

Beitragvon AlexRE » Di 1. Jan 2013, 21:37

Das hatte ich gestern auf dem Forum unseres Teilnehmers Caloderma zu dem Thema geschrieben:

Lagunaflair hat geschrieben:Obendrein auch noch unter Duldung des BvfG. Bild


Klassischer Fall von ff wie föllich falsch. Das BVerfG hat sich noch gar nicht mit dem Thema befasst.

Lagunaflair hat geschrieben:Gut Alex, habe das wieder rausgenommen, und das durch dieses hier ersetzt: http://www.spiegel.de/politik/deutschla ... 72547.html
Für mich kommt das schon fast auf dasselbe heraus.


Bundestag und BVerfG sind mitnichten "dasselbe".

Bild

Ganz langsam zum Mitmeißeln:

Der Bundestag ist der Gesetzgeber, der normalerweise allein zu bestimmen hat, ob eine Körperverletzung ausnahmsweise legal ist oder nicht. In manchen Gesetzen wird aber die Regelung von einzelnen Fallkonstellationen den Gerichten überlassen, indem der Gesetzgeber die betreffende Bestimmung allgemein hält und Gerichten die Aufgabe zuweist, z. B. die Wirksamkeit von Einwilligungen in Körperverletzungen als Rechtfertigungsgrund zu beurteilen.

Ob so ein allgemein gehaltener Rechtfertigungsgrund die Körperverletzung nun legalisiert oder nicht, beurteilen die Gerichte dann nach den Maßstäben des Grundgesetzes. So kommen auch andere Gerichte als das BVerfG zu verfassungsrechtlichen Güterabwägungen. Das war in diesem Fall das Landgericht Köln. Das hat nach verfassungsrechtlichen Maßstäben geurteilt, dass Beschneidungen von Säuglingen illegal seien.

Da der Bundestag die Verfassungsnormen, die dabei maßgeblich waren, nicht allein ändern kann (dazu sind 2/3 der Stimmen des Bundestages und des Bundesrates möglich, soweit Art. 1 GG eine Rolle spielt, kann gar nichts geändert werden), bedeutet das neue Gesetz, das die Beschneidung legalisieren soll, letztendlich einen Übergriff des Parlaments in den Zuständigkeitsbereich der 3. Gewalt. Ordentliche Gerichte wie das LG Köln kann nämlich nur das BVerfG korrigieren, wenn es um eine Auslegung des Grundgesetzes geht.

Im Ergebnis ist das Gesetz also eine Verfassungsrechtsbeugung durch den Bundestag. Die ist aber für juristische Laien nur schwer zu durchschauen und juristische Profis meiden das Thema Rechtsbeugung wie der Teufel das Weihwasser.

Also geht der Rotz erst einmal durch, jedenfalls bis irgendein als Baby beschnittener Mensch das Ganze als Nebenkläger bis vor`s BVerfG treibt. Dann würde die eigentlich zuständige Instanz die verfassungsrechtliche Güterabwägung des LG Köln noch einmal vornehmen - und wahrscheinlich zu demselben Ergebnis kommen. Die Begründung war nämlich sehr gut, wenn nicht zwingend.
Der Stuttgarter OB Rommel:

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Re: Das Beschneidungsurteil und seine weitreichenden Folgen

Beitragvon maxikatze » Di 15. Mär 2016, 09:22

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