Ich knall das mal hier rein
http://www.welt.de/vermischtes/article1 ... eidet.htmlWarum sich jemand bewusst für Hartz IV entscheidetSusanne Müller (42) könnte gut verdienen, doch sie braucht nicht viel. Sie hat sich gegen Karriere und für Hartz IV entschieden – und stellt doch Ansprüche. Zu Gast in einem spartanischen Luxusleben.
Susannes Kühlschrank ist nie voll. Die Einkäufe des Tages, Vorräte will sie nicht. "Ich mag es übersichtlich", sagt sieAm 1. März um 9 Uhr früh hocken zwei Nebelkrähen auf einem Balkon im fünften Stock. Sie starren gierig aus schwarzen Vogelaugen, sie wollen fressen. Susanne Müller kommt. Sie versorgt die Krähen mit Katzenfutter. Das ist von Aldi, die bessere Sorte, mit höherem Fleischanteil. Die Vögel mögen das, und Susanne versorgt sie anständig, obwohl sie eigentlich nichts zu verschenken hat. Vögel füttern ist ein Luxus im Leben von Susanne, darum genießt sie die Gier der Tiere. Sie schaut ihnen beim Fressen zu und freut sich.
Will man das Leben von Susanne Müller* in Zahlungsströmen darstellen, genügen kleine Zahlen. Am Monatsanfang beginnt Susanne zu warten. Stündlich kontrolliert die 42-Jährige den Kontostand, online. So erwischt sie den Moment ziemlich genau, in dem ihr Monatsbudget eintrifft.
Buchungstag: 01.03.13
Umsatzart: Arbeitslosengeld II
Buchungsdetails: Regelbedarf zur Sicherung des Lebensunterhalts (372,00 Euro),
Kosten für Unterkunft und Heizung (379,00 Euro),
Foto: Kathrin Spoerr
Susanne Müller lebt von 751 Euro im Monat. Trotzdem pflegt sie einen gewissen Wohlstand – MacBook, iPhone, Steakhausbesuche. Dafür gibt es die meiste Zeit Bratkartoffeln
Late Night
Jubiläum der Hartz-Reformen – Maischbergers Bilanz
Jobcenter Friedrichshain
Betrag: 751,00 Euro
Saldo: 772,00 Euro
Am 1. März um 11.20 Uhr besitzt Susanne Müller 772 Euro, 21 Euro waren noch übrig vom letzten Monat. Die Überweisung vom Jobcenter ist die einzige grüne Buchung des Monats.
Susanne Müller ist ein sparsamer Mensch. Ein genügsamer Mensch ist sie nicht. Sie ist ein Mensch mit Ansprüchen. Ihre Ansprüche sind klein, von außen betrachtet, aber sie achtet darauf, dass sie sie mit eigenem Geld erfüllen kann. Sie leiht sich nichts, weder von Freunden noch von ihrer Familie. Auch von ihrem Freund nicht. Das Geld, das sie "mein Geld" nennt, kommt vom Staat, von den Steuerzahlern. Sie bekommt das, was in Deutschland als "Mindestanspruch für ein menschenwürdiges Leben" definiert ist. Ihr Anspruch ist im Sozialgesetzbuch festgeschrieben, Arbeitslosengeld II, besser bekannt als Hartz IV.
Den finanziellen Rahmen hat sie schriftlich. Sie bekommt ihn per Brief mitgeteilt, zweimal im Jahr. Manchmal sind es ein paar Euro mehr, manchmal ein paar Euro weniger. Warum das so ist, weiß sie nicht. Aber es hebt oder senkt ihre Stimmung.
Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts
Sehr geehrte Frau Müller,
aufgrund Ihres Antrags vom 20.09.2012 werden für Sie Leistungen nach dem SGB II für die Zeit vom 1.12.12 bis 31.5.13 in folgender Höhe bewilligt: Monatlicher Gesamtbetrag in Höhe von 751,00 Euro – für den Regelbedarf zur Sicherung des Lebensunterhaltes (inkl. Mehrbedarfe) 372,00 Euro – Kosten für Unterkunft und Heizung 379,00 Euro.
Müller, Susanne ist in der Kranken- und Pflegeversicherung bei der Barmer-Ersatzkasse vom 1.12.12 bis zum 31.5.13 pflichtversichert.
Als sie noch Geld verdiente, sparte Susanne. Sie hatte schon damals keine großen Wünsche, es gab keinen Gegenstand, auf den sie sparte. Sie sparte vor sich hin, ohne Ziel.
Nie wieder arbeiten
Zuletzt verdiente sie 2290 Euro im Monat, netto. Zuletzt heißt: 2004. Ungefähr die Hälfte brauchte sie damals zum Leben; der Rest blieb liegen. Der Rest wurde immer mehr. Im September 2004 lagen 30.000 Euro auf dem Girokonto. Im Oktober 2004 hat sie gekündigt, ohne eine neue Stelle zu haben. Sie suchte auch keine neue Stelle. Sie wollte nicht arbeiten. Nie wieder.
Um 11.50 Uhr zieht Susanne ihren Shell-Parka an, dazu die Doc Martens. Beides acht Jahre alt, im Outlet gekauft. Sie wickelt sich in ihren roten Schal. Der ist aus Kaschmir und zwölf Jahre alt. Sie läuft die Treppen hinunter auf die Straße. Sie geht zur Bank, dieses eine Mal im Monat.
Buchungstag: 01.03.13
Umsatzart: Kartenverfügung
Abbuchung: 03.02/12.41 UHR – B-FRIEDR. – EUR 300,00 – ENTGELT 0,00
Betrag: 300,00 Euro
Saldo: 472,00 Euro
Am 1. März um 12.05 Uhr besitzt Susanne Müller 300 Euro Bargeld. Sie betritt die Schalterhalle, das Geldbündel in der Hand, steuert die Kasse an und wechselt die kleinen Scheine in große um: drei Hundert-Euro-Scheine, ein Zwanziger. Sie sagt, große Scheine machen sie diszipliniert. Susanne streicht die Scheine glatt und steckt sie ins Portemonnaie. Sorgfältig, korrekt. Sorgfalt ist ihre Art. Korrekt ist sie nicht.
300 Euro am Monatsersten, oder -zweiten, spätestens -dritten, mehr Bargeld besaß Susanne seit sechs Jahren nicht. "Ich brauche nicht mehr", sagt sie. "Ich will nicht mehr." Und dann sagt sie: "Mit viel Geld in der Tasche fühle ich mich gut." Sie weiß, dass diese Sätze nicht richtig zueinanderpassen.
Ein paar Minuten lang genießt Susanne den Blick auf die grünen Scheine in ihrem Portemonnaie. Dann geht sie frühstücken. Danach zum Friseur. Wie immer am Hartz-Tag.
Ihr Leben hat sich seit der Kündigung verändert. "Aber nicht verschlechtert", sagt Susanne. Sie lacht. Ungläubige Blicke ist sie gewohnt. Die gesparten 30.000 Euro reichten nach 2004 ziemlich genau drei Jahre lang. Als das Geld weg war, ging sie zum Sozialamt. Seitdem bekommt sie Hartz IV.
Susanne Müller ist 42 Jahre alt. Sie ist gesund. Sie ist intelligent. Sie hat Abitur. Sie hat einen Fachhochschulabschluss als Betriebswirtin. Zwölf Jahre lang hat sie so funktioniert, wie die Mehrheit der Deutschen. Sie hat acht Stunden täglich gearbeitet, hat Steuern gezahlt und an ihre Rente gedacht. Sie hatte einen Chef, viele Kollegen und sechs Wochen Urlaub im Jahr. Sie hasste ihre Arbeit nicht, auch nicht ihren Chef oder ihre Kollegen, als sie kündigte.
Frei wie in der Wüste
Im Urlaub hat sie gemerkt, dass ihr Leben nicht stimmte. Sie fuhr in die Wüste. Sie schlief im Schlafsack unter den Sternen der Sahara. "Dort ist es passiert", sagt Susanne. "In der Wüste habe ich gemerkt, dass ich nicht leben wollte, wie ich lebte. Die anderen wollten, dass ich so lebe." Sie wollte nicht in der Wüste leben, aber so frei wie in der Wüste. Das Wort "frei" benutzt Susanne oft.
Friseur Yilmaz: 15 Euro für einen Pagenschnitt. Susanne geht zum türkischen Friseur, obwohl sie Türken und überhaupt Ausländer nicht besonders mag. Das, sagt sie, sei eine Entwicklung, die neu ist an ihr. "Die wandern in die Sozialsysteme ein", sagt sie. Dass sie selbst das Sozialsystem ausnutzt, weiß sie, aber sie findet es okay. Sie hat kein schlechtes Gewissen. Türken, sagt sie, sollen bitte sehr das türkische Sozialsystem ausnutzen. Warum sie so denkt? "Ist doch logisch", sagt sie. "Die sind meine Fressfeinde. Konkurrenten eben."
"Café Morgenrot": 3,50 Euro für ein französisches Frühstück (ein Brötchen, ein Croissant, Butter, Marmelade, Honig, eine Tasse Kaffee). Sie bittet um ein zweites Brötchen und bekommt es. Gratis. Susanne gibt kein Trinkgeld.
Susanne wird erst wieder am Abend Hunger haben. Sie wird Bratkartoffeln mit Spiegelei machen. Sie isst gern Bratkartoffeln.
Susanne hat ihr Frühstück aufgegessen. Sie hat ein bisschen Zeitung gelesen, und jetzt geht sie einkaufen. Zwei Straßen weiter ist ihr Bioladen. Sie lächelt in die Wintersonne. Drei grüne Scheine im Portemonnaie. Das Essenkaufen macht sie sorgfältig. Mit viel Zeit für Qualität und Preisvergleich.
Biolädchen:
vier Kartoffeln, 79 Cent;
zwei Karotten, 65 Cent;
1 Liter Milch, 1,15 Euro;
ein Dinkelvollkornbrot vom Vortag
zum halben Preis, 2,05 Euro;
250 Gramm Butter, 1,49 Euro;
vier Eier, 1,20 Euro.
Zusammen: 7,33 Euro.
Am 1. März um 14.05 Uhr hat Susanne Müller 274,17 Euro im Portemonnaie. Sie hat ihre Umhängetasche mit den Einkäufen befüllt und geht nach Hause. Die Wintersonne scheint noch immer, sie genießt die Strahlen und geht langsam.
Susanne kauft zweimal, manchmal dreimal in der Woche ein. Biokost, nichts anderes. Und immer nur das, was sie braucht. "Ich esse gern, und ich koche gern", sagt sie. Ihr Monatsbudget für Nahrungsmittel liegt bei 120 Euro. Ihr Kühlschrank ist nie voll. Die Einkäufe des Tages, Vorräte will sie nicht. "Ich mag es übersichtlich", sagt sie.
Um 14.35 Uhr kommt Susanne nach Hause. Sie legt sich aufs Sofa. Sie sieht aus dem Fenster. Sie schließt die Augen. Jeder normale Mensch würde jetzt einschlafen. Susanne schläft nicht, sie liegt einfach da. Sie nennt es Meditation. "Ich brauch die Entspannung. Sonst kann ich mich nicht erholen." Sie hat das Gefühl, Erholung zu brauchen, sagt sie. Natürlich weiß sie, dass sie noch gar nichts Anstrengendes getan hat heute. Eine Stunde später steht sie auf, erholt. Jetzt ist der Haushalt dran. Wäsche in die Maschine, das Bad putzen. Das macht sie jeden Freitag. Staubsaugen. Das macht sie täglich.
Um 15.30 Uhr will Susanne sich ein bisschen bewegen. Parka, Kaschmirschal, Doc Martens. Ein Griff in die Kammer, dort steht eine Ikea-Tasche. Sie ist voll, 28 Pfandflaschen, die sie in den letzten Tagen gesammelt hat. "Nicht gesammelt", korrigiert sie sich. "Gefunden und mitgenommen."
Susanne geht zu Aldi, zwei Straßen weiter. Sie macht einen großen Umweg, weil das Winterwetter immer noch schön ist und die Straßen leer. Unterwegs findet sie zwei weitere Pfandflaschen. Weil ihre Tasche voll ist, klemmt sie sich die Flaschen unter den Arm.
Um 15.55 Uhr schiebt Susanne die Flaschen in den Pfandautomaten. Sie bekommt einen Bon im Wert von 7,50 Euro. Dann betritt sie den neonhellen Einkaufssaal. Einmal in der Woche kommt sie her. Mit Flaschen und einigen Bedürfnissen.
Katzenfutter, 1,99 Euro;
Klopapier, 2,75 Euro;
Allesreiniger, 75 Cent;
Flüssigwaschmittel, 1,99;
Geschirrspültabs, 2,85;
Hautpflegecreme, 1,29;
Haargel, 99 Cent;
Deo, 85 Cent;
Shampoo, 75 Cent;
Zahncreme, 39 Cent;
Tampons, 2,75 Euro;
Müllbeutel, 69 Cent.
Außerdem: ein Thesa-Kleberset (Klebestift, Klebeband, Sekundenkleber, Alleskleber), 2,29 Euro. Kopierpapier, 500 Blatt, 2,99 Euro – beides aus dem Aktionssortiment der Woche. Keine Impulskäufe, sondern Bedarf. Das Aktionsprogramm hatte sie letzte Woche mitgenommen und gründlich studiert.
Am 1. März um 16.55 Uhr hat Susanne Müller 258,85 Euro im Portemonnaie. Zweimal grün. Aber nicht mehr lange, denn jetzt wird sie die beiden größten Einkäufe des Monats hinter sich bringen: Die Prepaidkarte für ihr Handy muss aufgeladen werden: 40 Euro für Internet und SMS und Telefonieren, 36 Euro für die Monatskarte der BVG, Sozialtarif.
Am 1. März um 17.25 Uhr hat Susanne Müller 182,85 Euro im Portemonnaie, einmal grün. Auf dem Weg nach Hause klingelt ihr Handy. Sie holt ihr iPhone aus der Tasche, gebraucht gekauft vor zwei Jahren. Für 350 Euro. Ihr altes Handy hatte sie verkauft, es war ein iPhone 3 und brachte ihr 245 Euro. Susanne hätte gern ein iPhone 5. Seit Wochen sucht sie nach einem günstigen gebrauchten und nach einem Käufer, der ihr iPhone 4 kauft, möglichst teuer.
Susannes Freund Jens ist jetzt am Telefon, sie ist seit vier Jahren mit ihm zusammen. Jens ist Lehrer. Er fragt Susanne, wie es ihr geht. "Super!", sagt Susanne. Jens möchte seine Freundin zum Essen einladen, heute Abend. Susanne lehnt ab, denn heute Abend gibt es bei ihr Bratkartoffeln. Sie fragt ihn nicht, ob er kommen mag, um mit ihr zusammen die Bratkartoffeln zu essen. Später wird sie sagen: "Ich brauche viel Zeit für mich. Heute Abend möchte ich allein sein." Jetzt sagt sie: "Morgen gern, Jens." Jens ist einverstanden.
Morgen ist Samstag, das Wochenende verbringen Jens und Susanne zusammen. Er fragt, wo Susanne morgen essen möchte. Sie möchte zum "Block House". "Einmal im Monat Steak – das ist Luxus." Nächste Woche wird sie Jens einladen, aber nicht ins Restaurant. Sie wird für ihn kochen. "Damit sind wir dann quitt", sagt Susanne. Und dabei schaut sie so triumphierend, als hätte sie es mit dem Satz "Wir sind quitt" allen gezeigt. Ihrem Freund, ihrer Mutter, ihrem Bruder – allen, die an ihrer Lebensführung etwas auszusetzen haben, hat sie mit dem Satz "Wir sind quitt" bewiesen, dass sie, Susanne Müller, weder eine Schmarotzerin ist noch ein Versagerin und schon gar keine Betrügerin.
Sie vermisst es zu reisen
Früher verreiste sie gern. Seit sie hartzt, reist sie nicht mehr. Dazu reicht "ihr Geld" nicht. Schwarz arbeiten, was dazuverdienen? Susanne schaut verständnislos. "Ich will nicht arbeiten." Sie vermisst es zu reisen. Aber wenn sie abwägt, eine Reise, eine Traumreise sogar, gegen den "Verlust meiner Freiheit", dann fällt ihr die Entscheidung leicht: keine Reise. Natürlich lässt sie sich auch nicht zu einer Reise einladen. Jens hat es oft angeboten. Sie sagt Nein, aus Prinzip. Ein Lottogewinn, der Jackpot – das wäre okay. Den würde sie nehmen und eine Weltreise machen. Ansonsten weiterleben wie jetzt. Susanne spielt kein Lotto.
Im Herbst 2004 machte sie ihren letzten Urlaub. Sie reiste in die Wüste, es war ihr fünfter Wüstenurlaub. Danach reichte sie die Kündigung ein. Ein Versicherungsunternehmer verlor "eine wertvolle Mitarbeiterin. Susanne Müller verließ das Unternehmen auf eigenen Wunsch." Das steht in ihrer Beurteilung. Ihr Chef hat sich Mühe gegeben. Er schrieb nur Bestes über sie. Susanne hat die Beurteilung noch nie gebraucht.
Ihr Jobcenter erwartet Bewerbungsnachweise, und es kriegt sie. Susanne weiß genau, wie eine Bewerbung aussehen muss, die jeder Arbeitgeber ablehnt. Kein Anschreiben, keine Zeugnisse. Ein lückenhafter Lebenslauf, Rechtschreibfehler.
Die letzten zehn Jahre, ihre große Hartz-Pause, legt sie ausführlich dar. Sie wurde noch nie zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen. So stellt Susanne alle zufrieden. Den potenziellen Arbeitgeber, der eine vermeintlich Asoziale nicht einstellen muss. Das Jobcenter, weil eine Langzeitarbeitslose ihren Willen unter Beweis stellt. Sich selbst. Weil sie sich mit der Demonstration ihres Arbeitswillens den nächsten freundlichen Bewilligungsbrief vom Jobcenter sichert.
Keine Lust zum Arbeiten
Das Jobcenter ist freundlich zu Susanne, aber es foltert auch. Umschulungen. Weiterbildungen. Qualifizierungskurse. Einmal im Jahr macht sie die Maßnahme, die ihr Berater vorschlägt. Englischkurse, Managementkurse, Buchhaltungskurse, Stadtentwicklungskurse, Computerkurse. "Wenn ich Nein sage, kürzt er mein Geld." So blöd sei sie nicht. Für das, was sie "ihre Freiheit" nennt, bringt sie Opfer.
Susanne Müller ist clever. Sie hat Kraft und Talent.
Sie hat nur keine Lust zum Arbeiten. Und auch kein schlechtes Gewissen.
Um 17.15 Uhr schließt Susanne Müller ihre Wohnungstür auf. Sie freut sich auf ihre Wohnung, sie kommt gern nach Hause. Anderthalb Zimmer, 44 Quadratmeter groß und kalt. 15,5 Grad zeigt das Thermometer, ein Kombigerät mit Innen- und Außentemperaturanzeige, Uhrzeit, Wecker, Luftdruck und -feuchtigkeit. Ein Sonderangebot bei Rewe, 19,99 Euro. Das Thermometer steht da, wo bei anderen Leuten der Fernseher stehen würde. Wenn Susanne auf ihrem Sofa liegt und hinausschaut in die Sonne oder in den Regen von Berlin, dann streift ihr Blick den Kasten mit den Wetterdaten. Susanne hat keinen Fernseher.
Sie friert auch nicht. Sie hat einen Pullover übergezogen. Wegen Thilo Sarrazin? "Wer ist Thilo Sarrazin?", fragt sie und lächelt nicht. Sie kennt Thilo Sarrazin nicht, den Berliner Senator, der 2008 armen Berlinern empfahl, einen Pullover anzuziehen, anstatt die Heizung auf Kosten der Steuerzahler aufzudrehen.