28. August 2012 - 00:22
Von: Alan Posener
Artikel 6 GG darf nicht beschnitten werden
In der Auseinandersetzung um die Beschneidung von muslimischen und jüdischen Jungen hat der Bundestag mit überwältigender Mehrheit sich selbst aufgefordert, eine entsprechende gesetzliche Grundlage zu erlassen. Dabei existiert sie schon. Und zwar in Gestalt des Artikels Sechs im Grundgesetz.
Der Jurist Reinhard Merkel hat in der „Süddeutschen“ vom Samstag erklärt: „Dem schärferen Blick wird auf Dauer nicht verborgen bleiben, was die angekündigte Regelung … ist: ein jüdisch-muslimisches Sonderrecht. Das bezeichnet einen Sündenfall des Rechtsstaats.“ Starke Worte. Und blanker Unsinn. Sicher braucht man nicht einmal einen „schärferen“ Blick, um zu erkennen, dass es sich hier um ein Sonderrecht für Muslime und Juden handelt (nicht um ein „muslimisches“ oder „jüdisches“ Recht). Man muss aber völlig blind sein, um darin einen „Sündenfall“ des Rechtsstaates erkennen zu wollen. Gibt es doch allenthalben Sonderrechte für die diversen christlichen Konfessionen – zum Beispiel das Recht, in den von ihnen betriebenen karitativen Einrichtungen das sonst in der Republik geltende Arbeitsrecht nicht anzuwenden, das Recht, sich den Zehnten vom Staat eintreiben zu lassen; das Recht, in eigener Verantwortung Unterricht in den öffentlichen Schulen zu erteilen; das Recht, in Rundfunkräten über das Programm der staatlich betriebenen Medien mitzubestimmen und so weiter und so fort. Mag sein, dass die entsprechenden Gesetze allgemein formuliert sind; faktisch aber gelten sie nur für Religionsgemeinschaften, die sich wie die größeren christlichen Kirchen als Körperschaften konstituieren. Auch das geplante Gesetz über die Beschneidung wird allgemein formuliert sein und dennoch fast ausschließlich von Juden und Muslimen in Anspruch genommen werden.
Der Hinweis auf die rechtlich verbrieften Privilegien der Kirchen entkräftet auch den Einwand Necla Keleks und anderer „Menschrechtsfundamentalisten“, die im GG verbrieften Freiheitsrechte seien immer „Individualrechte“; es gebe keine Kollektivrechte, die gegen diese Individualrechte ausgespielt werden könnten; notfalls müsse der Staat durch „zügige und forcierte Integration“ diese Individualrechte gegen die religiösen Gemeinschaften und die religiös geprägten Familien durchsetzen. Womit Necla Kelek (die ich persönlich mag und als Autorin schätze) eben die Frage des Artikels 6 GG berührt.
Hier ist der Wortlaut des Artikels:
(1) Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung.
(2) Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.
(3) Gegen den Willen der Erziehungsberechtigten dürfen Kinder nur auf Grund eines Gesetzes von der Familie getrennt werden, wenn die Erziehungsberechtigten versagen oder wenn die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen.
(4) Jede Mutter hat Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft.
(5) Den unehelichen Kindern sind durch die Gesetzgebung die gleichen Bedingungen für ihre leibliche und seelische Entwicklung und ihre Stellung in der Gesellschaft zu schaffen wie den ehelichen Kindern.
Entscheidend für unsere Diskussion ist Absatz 2. Die Pflege und Erziehung der Kinder, heißt es, ist „das natürliche Recht der Eltern“. Das schließt die religiöse, weltanschauliche und moralische Erziehung ein. Katholiken erziehen ihre Kinder zu Katholiken, Protestanten zu Protestanten, Muslime zu Muslimen, Juden zu Juden, Zeugen Jehovas zu Zeugen Jehovas, Scientologen zu Scientologen, Atheisten zu Atheisten. Ausnahmen bestätigen die Regel. Ob die Kinder auch als Erwachsene Christen, Muslime usw. bleiben, ist eine andere Frage; außer Frage dürfte aber sein, dass diese frühkindliche Indoktrination tiefe Spuren hinterlässt. Diese Indoktrination, das habe ich in meinem allerersten Kommentar zum Thema Beschneidung in der „Welt“ festgestellt, konstituiert als „Beschneidung der Herzen“ (wie sie Jesus forderte) einen viel grundlegenderen Eingriff in die Persönlichkeit – und also in das Persönlichkeitsrecht – der Kinder als die äußerlich bleibende, wenn auch sicher nicht folgenlose Operation am Penis. Trotzdem wird die religiöse Erziehung nicht nur geduldet, sondern vom Grundgesetz implizit „unter den besonderen Schutz der staatlichen Ordnung“ gestellt, was erstens sonst für kein Grundrecht gilt und zweitens, Herr Merkel und liebe Necla Kelek, faktisch auf ein Sonderrecht für zwei Kollektive hinausläuft: Für die Familie erstens; und zweitens für die Religionsgemeinschaften, die ja die Sitten, Bräuche, Riten, Feiern und Dogmen bestimmen und tradieren, die über die Eltern den Kindern zur zweiten Natur werden sollen.
Auch die Religionsfreiheit (Artikel Vier GG) ist übrigens kein reines „Individualrecht“ im Sinne Necla Keleks, weil die freie Religionswahl und die in Absatz 2 garantierte „freie Religionsausübung“ voraussetzen, dass es Kirchen, Moscheen, Synagogen, Priester, Imame und Rabbiner (und ja, auch Schächter und Mohels) gibt. Das heißt, die Religionsfreiheit ist auch eine Kollektivfreiheit der Religionsgemeinschaften, so dass etwa die katholische Kirche das Recht behält, homosexuelle Praktiken, Sex vor der Ehe, Verhütung, Ehescheidung usw. als Sünde zu bezeichnen, auch wenn diese Dinge vom Gesetzgeber ausdrücklich erlaubt werden; die Zeugen Jehovas dürfen ihren Kindern beibringen, dass die Evolution eine Irrlehre ist, auch wenn sie Teil des Lehrplans an staatlichen Schulen ist; Juden und Muslime dürfen Tiere auf eine Weise schlachten, die den sonst gültigen Vorschriften fürs Fleischgewerbe nicht entspricht usw. usf.
Zurück aber zum Artikel sechs. Warum gibt es ihn? Noch in der Weimarer Republik wurde der entsprechende Verfassungsartikel (119) damit begründet, die Familie sei „die Keimzelle des Staates“ und diene „der Erhaltung und Vermehrung der Nation“. Diese Begründung fehlt in der Verfassung der Bundesrepublik. Zu Recht. Denn die Erfahrung mit der Diktatur zeigte, dass die Familie auch – ja vor allem – wichtig ist als Keimzelle des Widerstands gegen den Staat. Darum ist jede totalitäre Ordnung bemüht, die Familienbande aufzulösen, Kinder als Spitzel gegen ihre Eltern zu gewinnen, Eheleute und Liebespaare dazu zu bringen, sich gegenseitig zu denunzieren und zu desavouieren. Man denke an die beklemmende Szene „Der Spitzel“ in Brechts „Furcht und Elend des Dritten Reiches“, an Costa Gavras’ film „Das Geständnis“, basierend auf dem Buch von Artur London, an Winston Smith und Julia in Orwells „1984“ usw. usf. Zu den widerlichsten Episoden der Kampagne gegen Martin Luther King gehört das Abhören seines Hotelzimmers durch das FBI und das Zuschicken der Bänder, auf denen er mit einer anderen Frau zu hören ist, an seine Ehefrau Coretta. Man denke aber auch daran, wie die Familie etwa für die Geschwister Scholl einen Raum des Schutzes und des Vertrauens bildete; oder an die Familie Gauck in Rostock.
Natürlich ist der demokratische Staat nicht mit einem totalitären Staat gleichzusetzen, obwohl er sich zuweilen, wie der Fall King zeigt, ähnlicher Methoden bedient. Er ist aber gerade deshalb nicht mit einem totalitären Staat zu vergleichen, weil er seinen Einflussbereich beschränkt, weil er anerkennt, dass die Familie vor dem Staat steht, wie die Grundrechte, und dass der Staat die Familie schützen muss. Selbst wenn es um so etwas Fundamentales wie Mord oder so etwas Banales wie ein Verkehrsdelikt geht, können Eheleute vom demokratischen Staat nicht gezwungen werden, gegeneinander auszusagen: der Schutz der Familie ist wichtiger als die Ermittlung der Wahrheit oder die Herstellung des Rechtsfriedens.
Mir persönlich behagt vieles nicht, was in religiösen - und nichtreligiösen – Familien den Kindern vermittelt wird; aber noch unbehaglicher ist die Vorstellung, dass sich der Staat im Zuge der „forcierten Integration“ in die frühkindliche Erziehung einmischt und das richtige Denken durchsetzt.
Eltern machen im Zuge dieser Erziehung und der sonstigen Erziehung unzählige Dinge falsch. Um sich eine Vorstellung davon zu machen, reicht es, einmal die Erziehungsratgeber-Ecke Ihrer Buchhandlung aufzusuchen. Wenn sie aber nicht das Kindeswohl grob verletzen, soll sich der Staat nicht einmischen. Es steht nun außer Frage, dass die Zirkumzision zwar eine Körperverletzung ist, wie jeder körperliche Eingriff. Die Frage ist jedoch, ob sie – als Teil der religiösen Erziehung im weitesten Sinn, der Einführung in die religiöse Gemeinde und ihre Regeln, die den Eltern obliegt – dem Kindeswohl derart schadet, dass ein Eingriff des Staates notwendig ist. Dafür gibt es nur sehr wenige Hinweise. Es berichten prozentual weniger jüdische und muslimische Männer über die Traumatisierung durch die Zirkumzision, als katholische Männer über die Traumatisierung aufgrund von Onanieverboten und dergleichen durch katholische Priester, oder katholische Frauen über die Traumatisierung aufgrund der körperfeindlichen Erziehung durch katholische Nonnen (ich rede ausdrücklich nicht vom Kindesmissbrauch). Wahrscheinlich haben mehr Kinder Schäden durch grausige Märchen, brutale Videospiele, übertriebenes Fernsehen, die Pornosammlung ihrer Väter und das Gezeter ihrer Mütter davon getragen als durch die Zirkumzision. Da die Angemessenheit ein wichtiger Grundsatz des Rechtsstaates ist, muss man fragen, ob ein staatliches Eingriffsrecht in die Elternrechte aller muslimischen und jüdischen Familien, um Eltern davon abzuhalten, ihre männlichen Kinder beschneiden zu lassen – das wäre in der Tat eine „Sonderbehandlung“ und ein „Sündenfall des Rechtsstaats“ – gerechtfertigt werden kann, um der möglichen Traumatisierung einiger weniger Kinder zuvorzukommen.
Die Antwort ist: Nein.
Der Weg zur Hölle ist bekanntlich mit guten Absichten gepflastert. Der Weg in einen Staat, der „forciert“ alle Bürger seinen Vorstellungen – den Vorstellungen der Mehrheit – anpasst, beginnt mit dem Verbot eines religiösen Brauchs, der in der Tat irrational, archaisch, blutig und darum schwer zu verteidigen ist, und mit der damit verbundenen Aushöhlung des Erziehungs- und Sorgerechts der Eltern. Diesen Schritt sollte der Rechtsstaat auch zu seinem eigenen Schutz nicht tun. Der Artikel sechs sollte nicht beschnitten werden.
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