Dieses Buch beschäftigt sich vor allem mit den destruktiven Seiten von Narzissmus und Macht. Gleichwohl ist es mir wichtig, am Ende nochmals zu betonen, worauf ich schon zu Beginn hingewiesen habe: Weder Macht noch Narzissmus sind an sich "gut" oder "böse". Es ist unumgänglich, dass jeder von uns in seinem Leben ständig Macht ausübt, so wie auch jeder von uns ständig auf narzisstische Selbstbestätigung angewiesen ist, die von der Anerkennung durch andere abhängt.
Wer einseitig nur die Mächtigen geißelt, verkennt die "Macht der Ohnmächtigen" und den instrumentalisierten Einsatz von Ohnmacht, um beispielsweise moralischen Druck und damit Macht auszuüben. Wer hingegen in verantwortungsvoller Weise über Macht verfügen, muss Ohnmacht aushalten können, sonst wird er innerlich zum Gefangenen der Macht und muss diese suchtartig immer weiter steigen und ausdehnen.
Macht und Ohnmacht stehen in einem dialektischen Verhältnis zueinander in dem Sinne, dass die Steigerung von Macht unter einem bestimmten Aspekt immer begleitet wird von der Ausdehnung von Ohnmacht und Abhängigkeit unter einem anderen Aspekt. "Wissen ist Macht", heisst es. Doch wer sein Wissen immer mehr steigert, weiss auch besser, was er nicht alles weiss. Dem Machtzuwachs, der in dem höheren Grad an Wissen begründet ist, steht stets ein Zuwachs an Ohnmacht und Ausgeliefertsein an das Nicht-Wissen gegenüber.
Wer Macht sucht, ohne über diese Fähigkeit und den Willen zu verfügen, Ohnmacht und Abhängigkeit aushalten zu können, benutzt Macht kompensatorisch, um seine narzisstische Störung auszugleichen. Diese psychoanalytische Einsicht gilt nicht nur für den innerpsychischen Prozess, sondern lässt sich auch auf reale Macht in politischen Verhältnissen übertragen: Der Politiker, der immer mehr Macht über andere Menschen aufbaut, vergrössert gleichzeitig sein Angewiesensein auf diese Menschen, mit deren Loyalität er rechnet und auf deren Pflichtbewusstsein er vertraut.
Wer sein Angewiesensein auf andere nicht aushalten und akzeptieren kann, ist genötigt, die Gefühle von Ohnmacht zu verleugnen, indem er in eine narzisstische Selbstüberschätzung flüchtet. Nur in dem Gefühl, der Grösste, Schnellste, Beste, Klügste und Mächtigste zu sein, kann er sich einreden, nicht auf die Hilfe anderer angewiesen zu sein. Dies aber macht eine stetige Steigerung seiner Macht und Kontrolle unausweichlich und erklärt, warum viele Mächtige suchtartig der "Droge Macht" verfallen sind. In diesem Fall wird die Einsicht in die eigene Abhängigkeit von anderen durch eine Omnipotenzphantasie abgewehrt, die man so formulieren könnte: "Ich bin so mächtig, dass mir die soziale Wertschätzung, die ich zur Stärkung meines Selbstwertgefühls nötig habe, durch Macht erzwingen kann."Erfolgreich ausgeübte Macht soll zum Beweis der eigenen Stärke, Grösse und Potenz werden. Sie soll alle nagenden Selbstzweifel beschwichtigen sowie als Aphrodiasakum und als Aufputschmittel gegen Depressionen wirken. Und wenn das alles noch nicht wirkt, verfügt der Mächtige über Mittel und Wege, sich Respekt zu schaffen, sich huldigen, loben und schmeicheln zu lassen. Zugleich dienen die Strategien der Macht auch dazu, die weniger Mächtigen, die Unterlegenen, die Machtlosen narzisstisch zu kränken und in ihrer unterlegenen Position zu fixieren. Sie sollen ihm, dem Mächtigen, beflissen Beifall zollen, den Staub von seinen Füssen küssen, ihm liebedienerisch nach dem Munde reden.
Auch wenn er die falsche Freundlichkeit der Speichellecker durchschaut, zieht der Narzisst eine sadistische Lust aus solcher Untertänigkeit, denn er geniesst es, dass nicht er, sondern die anderen sich verachtet, herabgewürdigt und verletzt fühlen. Der Mächtige gibt seine eigenen narzisstischen Verwundungen an diejenigen weiter, die seinem Machteinfluss unterworfen sind. Der Mächtige zwingt die Ohnmächtigen seine eigene verleugnete negative Identität, die durch Gefühle der Minderwertigkeit, der Schmach, der Missachtung und der Erniedrigung gekennzeichnet ist, stellvertretend auszuleben.
Eine andere pathologische Strategie des Narzissmus besteht in der Verschmelzungsphantasie, in der die eigene Macht verleugnet und ein perfektes Einssein mit dem Objekt angestrebt wird. Das schmerzhafte und kränkende Erlebnis der eigenen Bedeutungslosigkeit wird verleugnet durch das totale Einssein mit dem mächtigen Objekt. Die begleitende Phantasie könnte etwa lauten: " Ich bin mit meinem mächtigen und bedeutenden Partner so eng verschmolzen, dass ich mich nicht deklassiert und armselig fühlen muss. Ich lege gar keinen Wert darauf die erste Geige zu spielen, da ich kein eigenständiges Wesen bin, sondern an der Macht und dem Glanz meines verehrten Partners partizipiere."
Quelle: Hans Jürgen Wirth Narzissmus und Macht Zur Psychoanalyse seelischer Störungen in der Politik